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Meta-Disput zur Dialektik

Anläßlich einer kleinen eMail-Diskussion bekam ich zwei Texte (s.u.) zur Dialektik zugeschickt. Sie bieten Anlaß, sich mit dem Begriff und dem Inhalt der Dialektik tiefer auseinanderzusetzen. Beide kritisieren die Dialektik, wobei Weinberger der Dialektik ein recht großes Interesse und Wissen entgegenbringt. Seine Kritik regt mich also auch stärker zu Entgegnungen an, was nicht bedeutet, daß ich ihm gegenüber stärkere Ablehnung empfinden würde.


1. Beziehung Dialektik - Philosophie

Weinberger setzt voraus, daß es die "Aufgabe der Wissenschaften und der Philosophie ist, verstehbare Behauptungen aufzustellen". Meine 9-jährige Tochter wird sich freuen, daß sich alle Wissenschaft ab nun auf den Horizont ihrer "Verstehbarkeit" zu beschränken hat! Eine Hilfe bei der Meisterung ihres Lebens ist das sicher nicht. Weinbergers Wissenschaftsbegriff ist also recht eng gezogen, daraus wird das Unverständnis über darüber hinausgehende Gedanken verstehbar. (Jeder mag seine eigene Entscheidung treffen, wozu er sich mit dem Ganzen beschäftigt... Auch meine Tochter darf notfalls aufhören, dazuzulernen...). Natürlich geht es Weinberg hier nur um eine prinzipielle Verstehbarkeit, aber wer will die den Hegel-Kennern absprechen, nur weil man ihnen selbst vielleicht nicht folgen kann? Der Suche nach "größtmöglicher Klarheit und adäquater Präzision" wird die Hegelsche Dialektik schon gerecht, sie erreicht sie durch eindeutige Begriffsbestimmungen - etwa in einer sauberen und präzisen Unterscheidung von "Sein", "Dasein", "Existenz", "Realität" und "Wirklichkeit".

Seiffert sieht es als Besonderheit der Dialektik an, daß ihre Bedeutung nur durch die Betrachtung der jeweiligen Autoren zu zeigen und zu verstehen sei. Ist dies nicht für alle philosophischen Autoren so? Oder gibt es "die eine objektiv richtige" Philosophie und nur verschiedene Dialektiken? Interessant ist die Beobachtung, daß die Klassiker kaum zitierten - die Leser hatten zu wissen, welche Geschichte die Begriffe mit sich tragen.

Weinberger versucht anzuerkennen, "daß die Dialektik nicht von der Warte der logischen Begriffsapparatur aus verstanden und kritisiert werden darf." Im Gegenzug spricht er ihr aber ab, an diese Begriffe überhaupt anschließen zu dürfen. Ist es jedoch nicht geradezu typisch für philosophische Begriffsbildungen, daß sich alle originären Philosophen auf ältere Begriffe stützen, wobei sie deren Bedeutung ausdrücklich umdefinieren? Die Transparenz der Umdefinition muß gewahrt bleiben, die Motivation dafür ist aber oft nur verstehbar von der neueren Interpretation aus. Dies hat die Philosophie aber mit anderen Wissenschaften gemeinsam. Auch die Relativitätstheorie spricht noch von "Zeit" und "Raum", hat aber ein verändertes Verständnis davon als die klassischen Theorien. Der Zeitbegriff unterscheidet sich z.B. in der Thermodynamik noch einmal typisch von dem der Newtonschen Philosophie wie auch der Relativitätstheorie. Daß "Negation" in der Dialektik etwas anderes ist als in der Logik muß man also einfach akzeptieren und verstehen lernen. Das sogenannte "Korrespondenzprinzip", daß nämlich die neueren Naturwissenschaften die älteren i.a. als Grenzfall mit enthalten (z.B. gilt die Newtonsche Dynamik solange die Geschwindigkeiten weit unter der Lichtgeschwindigkeit liegen) gilt auch bei philosophischen Konzepten - wenn nämlich ein Konzept ältere dialektisch "aufhebt" - aber da sind wir schon wieder bei der Dialektik, die nicht von allen anerkannt wird.

(Ich bin übrigens der Meinung, daß auch die Naturwissenschaften nicht ganz so "objektiv" und "unparteiisch" sind, wie sie zu sein vorgeben. Da wird es noch mehr Gemeinsamkeiten mit der eher subjektiv geprägten Philosophie geben!).

Weinberger sieht die Funktion der Dialektik darin, ungelöste Fragen der logisch-analytischen Methode aufzugreifen und in mit ihren eigenen Methode lösen zu wollen. Dabei verfehlt sie nach Weinberger aber dieses Ziel, weil eine Weiterentwicklung der logischen Analyse die Fragen ebenso lösen kann. Dies kennzeichnet seinen Standpunkt als logischen Analytiker, das Argumentationsmuster kann für den Dialektiker analog verwendet werden.

2. Worauf bezieht sich Dialektik?

Seiffert reduziert Dialektik auf den historischen Ursprung, bei dem Dialektik nur etwas mit dem Umgang mit Aussagen zu tun hat, nicht mit der Realität. Die ethymologische Herkunft philosophischer Begriffe wie "Gegensatz" und "Synthese" nimmt er als Beweis für die Nichtexistenz entsprechender Prozesse/Eigenschaften in der natürlichen Realität. (Viele falsche Anwendungen im Bereich der Natur beweisen aber nicht die Nicht-Anwendbarkeit...).

Wenn Seiffert unterstellt, die Dialektik sei nur als persönliche sprachliche Produkte von Hegel und Marx interpretierbar und nicht - wie andere Methoden/Theorien - systematisch darzustellen, so ist das eine ziemlich subjektive und nicht akzeptable Vorstellung von Autorenschaft und Systematik. Dialektiker kennen ihre Systematik so genau wie ein geschulter Phänomeloge vielleicht die seine. Vielleicht ist es aber ein gutes Kennzeichen der dialektischen Methode, wenn sie ihre Parteilichkeiten transparent macht und nicht in nicht mehr hinterfragbaren Schulen versteckt? (Als Nicht-Phänomeloge, Nicht-Hermeneutiker, Nicht-Sprachanalytiker begegnen mir auf dem Gebiet der Phänomelogie, der Hermeneutik, der Sprachanalyse ebenfalls dutzende verschiedener Autoren mit verschiedenen Ansichten -oder bin ich da nur noch nicht genügend gleichgeschaltet worden durch eine Schule?)

Weinberger unterscheidet verschiedene Dialektik-Ansichten, bei der Dialektik in der Natur und Dialektik im Denken unterschieden werden können.

Hegel legt Wert auf die Identität des Denkens mit dem Sein, die er nur in der dialektischen (!) Bewegung begründen kann.

Im Marxismus wird die Dialektik des Denkens nicht nur aus der Dialektik der Natur abgeleitet - Weinberger überbetont (wie auch die marxistischen Dogmatiker) die Begründungsrelation (objektive Dialektik begründet Dialektik im Denken) und übersieht die Eigendialektik des subjektiven Bereiches und die Subjekt-Objekt-Dialektik (die beide in besserer marxistischer Literatur durchaus auch vorkommen).

Seiffert zitiert später Lukacz, der die dialektische Methode ausdrücklich nur für Mensch-Natur-Wechselwirkungen anerkennt. Lukacz selbst verkennt hier sogar das Wesen der Naturerkenntnis, der er den Veränderungswillen abspricht, was nicht zwingend ist. Nicht nur Gesellschaftstheorien werden "Theorien dieses beweglicheren Typs", die Habermas in einem Zitat bei Seiffert dadurch beschreibt, "daß sie selbst Momente des objektiven Zusammenhangs bleiben, den sie ihrersseits der Analyse unterwerfen." Wird nicht auch die Naturwissenschaft in dieser Weise dialektisch verstanden, verfällt sie hoffnunglos der Kritik durch esoterische Mystiker, die fälschlicherweise aus der Quantentheorie ableiten, daß ihr Gedanke einen Quant direkt beeinflussen könne.

3. Der Inhalt der Dialektik

Beide Autoren halten sich lange mit der Triade "These-Antithese-Synthese" auf. Seiffert bezieht sich vorwiegend auf die äußere Form der Kapitelgestaltung bei Hegel und übersieht dabei Hegels eigene Schwierigkeiten, die tatsächliche dialektische Gedankenabfolge in Dreierschritten einzupressen. Gerade der auch von Hegel gespürte Zwang zur Systematik, den Seiffert ja vorher allen ernsthaften Theorien abfordert, führte zu dieser Einpressung. Der Inhalt selbst hat anderen Charakter. Nicht umsonst wehrt sich Hegel selbst gegen den Begriff der "Synthese". Das Wesentliche der Dialektik ist von Seiffert als "Nichtkenner Hegels" tatsächlich gar nicht erfaßt worden.

Anders Weinberger. Ihm ist der Gedankenreichtum der Dialektik wohlbekannt, seine Kritik reicht tiefer.

Er nennt mehrere Problemkomplexe:

a) das Negative: Die Negation ist in der Dialektik ein wesentlicher Prozeß. Weinberger bezieht das Negative auf die Nominalnegation, bei der ein übergeordneter Begriff vorausgesetzt wird, in bezug zu dem das Komplement gebildet wird ("Dieser Stift ist nicht rot" - setzt Farbenvielfalt voraus). Letztlich existiere das Negative selbst nicht.
Er kritisiert nun die Dialektik: "Die dialektischen Systeme setzen negative Gegenstände als besondere Entitäten voraus, ohne diese Gegenstände als Entitäten aufweisen zu können." Tatsächlich gibt es bei Hegel ein "Nichts" - aber eben gerade nicht als "besondere Entität", sondern als zu überwindende abstrakte Allgemeinheit. Alles Besondere ist bereits etwas Bestimmtes, und hier gelangen wir zu der Spinozistischen Aussage "Omnis determination est negatio". "An und für sich betrachtet ist jedoch diese Auffassung grundfalsch" meint Weinberger dazu. Er beweist es aber nicht, sondern behauptet es nur. ("an und für sich" kann die Aussage gar nicht falsch sein, denn jedes "an sich" ist einer Entwicklung fähig, wie der Dialektiker weiß.)
Tatsächlich setzt die Dialektik einiges voraus, das erst als Gesamtes in sich stimmig ist. Wir haben in der Dialektik einfach keine absolut isolierten Sachverhalte oder Gegenstände, die nur aus sich heraus (positiv) bestimmt sein könnten; sondern zwischen allen "Entitäten" existieren Wechselbeziehungen, die zur Wesensbestimmung notwendig dazugehören - und die Voraussetzung für den Begriff der Negation darstellen. Für jede Entität existiert nach dieser Ansicht eine Totalität (die durch die Gesamtheit der Entitäten konstitutiert wird) - und in Bezug zu dieser existiert das Negative. Die Totalität ist nicht allein das räumlich oder zeitlich Unendliche, verweist aber gegenüber den daseienden Erscheinungen (den bestimmten Seinsformen) auf Differenzierungen, die von einer Entität aus betrachtet als Negation auftreten.
In der Gesellschaft ist das Negative die immerwährende Kritik am Vorhandenen, die typisch für das menschliche Empfinden und Fühlen ist. In der Natur kann man meiner Meinung nach auch von konkreten bestimmten Entitäten/Dingen/Prozessen ausgehen, die wegen ihrer Konkretheit innerlich reichhaltige Mannigfaltigkeiten, Differenzierungen enthalten. Die Mystiker negieren die Differenzierungen: "Alles ist in Allem" -dies wäre absolut positiv bestimmt. Aber objektive Differenzen sind die geringste Voraussetzung für Negationen. Alle Erkenntnisse der Naturwissenschaft beweisen, daß jeder Zustand (Quant, Stern, Planet, Atmosphäre, Organismus...) nur aufrechterhalten wird durch zyklische materiell-energetisch-informationelle Wechselwirkungen, bei denen intern immer wieder Momente negiert werden... ).

b) schöpferische Negationen: zugegebenermaßen war die "Negation der Negation" eien Schwachstelle des sog. "Dialektischen Materialismus". Die bei Weinberger genannten Beispiele dafür sind schon nicht so schlecht. Wenn die "Regel über die Auffindung des Ausgangspunktes der Negation und die Operation (oder den realen Vorgang) der schöpferischen Negation" nicht eindeutig erkannt werden kann, kann das auch an einer nichtangemessenen Fragestellung des Theoretikers an die Natur liegen! Genau dieser Regelhaftigkeit versperrt sich das Schöpferische! Das war bei Hegel und auch bei Marx noch nicht so klar, bei Hegel zumindest war das Neue implizit im sich Bewegenden schon enthalten und brauchte nur noch freigesetzt zu werden. Gewähr dafür war, daß der ganze Prozeß nur das Zu-sich-selbst-kommen eines vorausgesetzten Absoluten zu sein hatte. Marx nahm noch an, daß sich aus der Kritik des Vorhandenen das Neue eben aus der Aufhebung des Alten ergäbe (was er gut anhand der Entwicklung vom Handwerk und den Manufakturen zur großen Industrie nachvollzog). Offene Zukünfte kannte er in der Theorie noch nicht, obwohl er in praktischen politischen Ratschlägen (Brief an Vera Sassulitsch) vorsichtiger war.

Wenn Weinberger hier weiter den von Hegel nie verwendeten Begriffen These-Antithese-Synthese folgt und daraus ableitet, daß das offensichtlich in den Bereich der Gedankengebilde fällt, ist das einigermaßen unredlich.

c) Fortschritt: Ja, bei Hegel und Marx ist die "Negation der Negation" als Fortschritt gewertet. Nicht zu vergessen ist hier aber, daß in realen Entwicklungsprozessen auch Regression, Stagnation und Vernichtung erfolgen. Dialektik bedeutet nicht, daß alles sich Bewegende in der Spirale nach "oben" klettert. Aber jeder Zustand ist konkret, deshalb innerlich differenziert und widersprüchlich und ermöglicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die schöpferische Negation (d.h. Beenden alter Zustandsmöglichkeiten und Aufbau neuer).

d) Damit sind wir bei einem weiteren Punkt, der Widersprüchlichkeit:
Über den Unterschied von logischem und dialektischem Widerspruch schreibe ich jetzt nichts. Zu beachten ist, daß Weinberger einerseits fordert, daß die Dialektik eigene Begriffe bildet, sie dann aber nicht achtet, sondern immer wieder logische Begriffe unterstellt, wo sie nie verwendet werden. Daß ethymologisch "Widerspruch" und "Gegensatz" verwendet wird, sollte akzeptabel sein, wenn man sich daran gewöhnt hat, daß diese Anschlußfähigkeit in der wissenschafltichen Kommunikation durchaus üblich ist, wenn die Transparenz der Inhaltsänderung gewahrt bleibt. Kein umgangssprachliches Wort dürfte sonst wissenschaftlich verwendet werden und jede neue Theorie müßte eine eigene neue Sprache schaffen...

e) Identität von Identität und Unterschied:
Ganz einfach: Jede konkrete Entität ist sie selbst und gleichzeitig der Unterschied zu einer anderen Entität. Oder in einem anderen Bezug: jede Entität hat etwas mit anderen gemeinsam (mindestens ihren Bezug zum Absoluten/Totalen würde Hegel sagen, möglich ist auch der evolutionäre Zusammenhang...) - und unterscheidet sich gleichzeitig von den anderen innerhalb dieses Gemeinsamen (sonst wäre es keine einzelne, konkrete Entität). Hegel hat dafür bessere Begründungen als der von Weinberger herangezogene polemische Satz gegen andere Ansichten.

f) Theorie der Bewegung und Entwicklung:
Wenn Weinberger der Meinung ist, daß man die Dialektik zur Erklärung der Prinzipien der Bewegung/Entwicklung nicht brauche, dann soll er eine einzige logisch-analytische Bewegungstheorie angeben...
Seine Nachfrage danach, ob Veränderung ohne logischen Widerspruch dargestellt werden kann, verwechselt schon wieder dialektische und logische Widersprüche.
Er zieht sich dann darauf zurück, daß absolute Erkenntnisse eh bloß im formalen Bereich, der Logik und Mathematik möglich seien. Seit Gödel wissen wir, daß dies nicht mal dort möglich ist...

Er fragt, ob man Bewegung überhaupt erklären müsse, oder ob man sie nicht als Fakt einfach hinnehmen könne. Hm, ich kann alles hinnehmen, dann verhalte ich mich aber nicht gerade wissenschaftlich zur Welt. Tatsächlich nimmt auch der Dialektiker hin, daß die Welt halt so ist wie sie ist, nämlich innerlich widersprüchlich, deshalb sich bewegend und entwickelnd. Deshalb braucht er das gegenüber den Leugnern der Dialektik auch nicht zu begründen...

Mir geht die Zeit jetzt langsam zu Ende, ich kann nur noch kurz auf zwei Punkte eingehen::
g) Veränderlichkeit der Gesetze: Wenn wir über einen Weltbereich eine richtige Aussage über wesentliche Zusammenhänge (unter bestimmten Bedingungen) machen, verändern wir diese Aussage nur, wenn wir in der Erkenntnis tiefer gehen, andere Bedingungen als wesentlich ansehen usw. Was Weinberger Quasi-Gesetz nennt, wären die wesentlichen Zusammenhänge in der Realität selbst, die mit sich verändernden Bedingungen entstehen oder vergehen. Gesetze (wesentliche Zusammenhänge für bestimmte Bereiche der Welt) sind allgemein-notwendig, weil sie unter gleichen Bedingungen notwendig wieder auftreten. Sie wirken nicht "von außen" auf die Zustände, sondern sind selbst die wesentlichen Zusammenhänge, die den Zustand konstituieren. Mit der Veränderung des Zustands verändern sich damit auch die wesentlichen Zusammenhänge. Genau hier liegt auch der Knackpunkt, der die Dialektik deutlich macht:

Wesentliche Zusammenhänge konstituieren relativ stabile Zustände, wobei durch Wechselwirkungsprozesse die Bedingungen des eigenen Seins verändert werden. Veränderte Bedingungen führen zu einer Veränderung wesentlicher Zusammenhänge und es vollzieht sich auf diese Weise Bewegung und Entwicklung in kontinuierlichen und/oder diskontinuierlichen Prozeßfolgen...

h) "Relativität"

Der Dialektik wird oft Beliebigkeit unterstellt. "Alles ist relativ" - könnte ja fast zum Credo der modernen Postmoderne werden. Relativität bezieht sich aber auf Relationen, Beziehungen und die sind nicht beliebig. Das Wesen erfaßt Beziehungen und ermöglicht deshalb wissenschaftliche Erkenntnis der sich dauernd verändernden Welt, in der reale Erscheinungen ständig entstehen und vergehen. Das Entstehen, Vergehen, Übergehen vollzieht sich aber in dauernden Beziehungsgeflechten und diese zu erkennen ist das Ziel von Wissenschaft (gegen Weinbergers Ansicht in 1.).
Wenn Hegel schreibt: "Im Wesen ...ist alles relativ" (Enzyklopädie § 111 Zusatz), so meint er damit keine Beliebigkeit, sondern das Enthaltensein der konkreten Beziehungen im Wesen. Wesenserkenntnis ist deshalb die Erkenntnis wesentlicher Beziehungen, was sich darin ausdrückt, daß Begriffe nur als Verhältnisse darstellbar sind.

Ich komme nun doch zusammenfassend auf einen weiteren Punkt:

i) Erkenntnis:

Verstehbare Behauptungen wie bei Weinberger sind für mich nur nebensächliche Merkmale für Erkenntnisse. Wichtiger ist mir, wenn man schon sehr allgemein bleiben will, die Erklärung, das Verstehen, die Orientierung durch Erkenntnis. Ein anderes Wort für die zu erreichende Funktion ist Begründung. Ich suche nach Begründungen für Vorhandenes und Gewolltes. Bei Vergleichen werden vorhandene Unterschiede auf Identität zurückgeführt, aber keine weiterführenden Aussagen ermöglicht. Begündungen beruhen auf Unterschieden. Etwas hat seinen Grund in Anderem, das ihm nicht absolut fremd sein kann (sonst gäbe es keine Beziehung/Wechselwirkung).

Die Beziehung zwischen dem Etwas und seinem Anderen aufzudecken (die das Dauernde im ständig Übergehenden darstellt) ist Wesenserkenntnis. Erstens werden damit Unterschiede angenommen, zweitens sind die konkreten Wechselwirkungen in der Beziehung zumindest einander entgegengesetzt, dann widersprüchlich. Beide Behauptungen sind typisch für die Dialektik, haben sich aber doch auch als reale Eigenschaften der Denkprozesse und vieler natürlicher Prozesse erwiesen. Für diese sei den Dialektikern das dialektische Denken gestattet - wer sich auf die Prozesse beschränkt, bei denen das logisch-analytische Denken ausreicht, mag sich darauf beschränken und die Reichweite seiner Methode nachweisen.

4. Anwendung in der Gesellschaftstheorie

Man spürt ganz deutlich, daß Seifferts Kritik an Hegel auf den Marxismus zielt. Indem Seiffert erkennt, daß der Marxismus auf Hegels Dialektik fußt, muß er mit seinem Kritikwillen bereits dort ansetzen.

Problematisch ist erstens, daß er unvermittelt die Hegelsche Geschichtsphilosophie als Quelle des Marxismus benennt und verwischt, daß es mehr die Methode war, die Marx eigenständig (und gegen Hegel selbst!) angewandt hat und zweitens, daß er sich bei Marx nur auf die eher unphilosophische Schrift des Manifests bezieht. Sauber wissenschaftlich kann man dieses Argumentationsmuster nicht nennen.

Marx betont ausdrücklich den Unterschied zwischen Erarbeitung einer Theorie und der Darstellung der Ergebnisse (sogar innerhalb seines großen Werks "Kapital", noch viel mehr bezüglich der populären Schrift des Manifests). Die Dialektik nun nur an der populären Darstellung kenntlich zu machen (wo sie logischerweise auch auftaucht) und ihr dann aber das "sich von selbst ergeben der Folgerungen" auch noch vorzuwerfen, zeigt völliges Unverständnis gegenüber einer wissenschaftlichen Arbeitsmethode (und das in einer Schrift über Wissenschaftstheorie!).

Auch die Ergebnisse werden ziemlich willkürlich gedeutet. Angeblich soll nach dem Ende der Klassenkämpfe in der klassenlosen Gesellschaft für die Menschen "nichts Neues mehr kommen können". Wo hat er das gelesen?? Anderes Neues wird möglich werden, da die Menschen aus allen Zuständen befreit sind, in denen sie ausgebeutete, geknechtete Wesen sind. Viel mehr verlangt Marx von dieser Zukunft nicht. Weniger aber auch nicht. Das menschliche Wesen als Kreativität beschreibt Marx an vielen anderen Stellen; seine Konzentration auf die Beseitigung der knechtenden Zustände soll ja nur diese Entfesselung der unendlichen Möglichkeiten für menschlich erzeugtes Neues ermöglichen... Er spricht nicht umsonst vom Übergang aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.

Die Frage nach der Interpretation der Geschichte als Klassenkämpfe reibt sich ebenso an der damit praktizierten Nicht-Dialektik auf. Dialektik zielt nicht nur auf irgendwelche Interpretationen, sondern auf die Aufdeckung wesentlicher, d.h. für genau die betrachteten Zustände typischen Wechselwirkungen. Welche Verhältnisse prägen bestimmte Lebensweisen? Daß es im Laufe vieler Jahrtausende die ökonomischen Machtverhältnisse waren und sind, die die menschliche Selbstverwirklichung kanalisieren und die Menschen knechten ist genau Punkt, den Marx analysiert und kritisiert!
Aus der Kritikfunktion (die leider tatsächlich im traditionellen Marxismus außer den praxisphilosophischen Strömungen tatsächlich unterbelichtet blieb) ergibt sich auch, daß Begründungen allein keine Orientierungsbasis geben können. Wissenschaft sucht Begründungen - aber nicht, um das Vorhandene zu legitimieren, sondern Hinweise zu geben, welche Bedingungen wie verändert werden können, um Gewolltes zu erreichen. (siehe oben).


Referenzen:

H.Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Kapitel Dialektik
O.Weinberger, Dialektik und philosophische Analyse

Das Ganze ist ja inzwischen ein Meta-Meta-Disput geworden. In der Naturwissenschaft kann man anscheinend erst mal bis zum Abi feste Formeln und Gesetze büffeln, im Studium sagt einem der eigene Prof auch noch, wer in der Forschung auf dem richtigen Weg (wie er selbst) und wer auf dem falschen (wie seine Gegner) ist. Im geisteswissenschaftlichen Bereich sieht das wohl schlimmer aus. Man soll sich gleich durch dutzende Meinungen durcharbeiten, die nur darin bestehen, andere Meinungen zu kritisieren, die auch nur wieder andere kritisieren...

Was kann uns da leiten? Letztlich doch wieder nur der gesunde Menschenverstand, das, was uns das Leben lehrt. Was hilft uns wobei? Für fast jeden Job mit freizeitlichem Fernsehen reicht das Schulwissen allemal. Aber wer weiter will...

(... soll hier weiterschreiben, das Web hat noch viel Platz)

 

siehe auch:

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