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Gesellschaft und Selbstorganisation

Die Gesellschaft wird in neueren Konzepten von Konservativen wie auch von Alternativen oft als sich selbst organisierende Einheit verstanden. Die schon von den Grundlagen her nicht umumstrittenen Konzepte der Selbstorganisation, Autopoiesis und Synergetik werden nun in unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen Kontexten verwendet. Einige Tendenzen der verschiedenen Interpretationen fasse ich zusammen.

 

 
Gesellschaft als sich selbst organisierende Ganzheit gerät in den Blickpunkt von Systemtheoretikern, Selbstorganisations- und Chaosforschern - aber auch Gesellschaftstheoretiker nutzen die allgemeinwissenschaftlichen System-, Selbstorganisations- und Chaoskonzepte (Probst, Rojas, Landfried u.v.a.).

Besonders populär ist dabei die Chaostheorie, die mit Überschriften wie "Mehr Chaos, bitte" populär gemacht wird. Mit ihr wird die Nicht-Erklärbarkeit der Finanzmärkte und der politischen Wirren "begründet" (Hardy), das Management auf Flexibilität getrimmt (Peters) - aber auch die politisch Alternativen beziehen sich z.B. bei den tranellen "Chaos-Tagen" in Hannover auf die Chaostheorie (Cropp).

Aber dies geschieht nicht kritiklos, sondern wird manchmal mehr, manchmal weniger eifrig bekämpft.

Um die Kritik gleich vorweg zu nehmen:

Einerseits wird kritisiert, daß die Fraktale zwar vielen wirklichen Phänomenen "ähnlich sehen", daß ihre Mathematik aber nicht viel mit den wirklichen Phänomenen zu tun haben muß. Die phänomenale (bildlich vermittelte) Popularität kann auch von wirklichen Zusammenhängen ablenken (u.a. Brügge).

Etwas fundamentaler ist die Kritik an der Anwendung der Systemtheorie für die Gesellschaft überhaupt:

Die Gesellschaft als sich selbst organisierendes System zu betrachten, bedeute, daß der Mensch "wie eine Punktmasse, wie ein Gaspartikel in einem nichtlinearen System" agiere (Paolo, S. 24). Die Schöpferkraft des Menschen gerät völlig außerhalb des Interesses und verschwindet hinter lauter zufälligen Fluktuationen (ebenda).

Nicht mehr wertfrei, sondern pronounciert interessenbezogen wird auch formuliert: "Auf diese Weise wird Herrschaft objektiviert, anonymisiert und so unangreifbar gemacht." (F.S.1993).

Diese Kritiken sind meiner Meinung nach für bestimmte Ausformungen der Systemtheorien durchaus berechtigt. Die erste und zweite methodisch, die zweite und dritte stärker politisch-weltanschaulich. Es wird eine Gratwanderung: Die neuen Konzepte können von verschiedenen politischen Interessengruppen jeweils fehlinterpretiert werden. Eine "rein" wissenschaftliche Interpretation wird es für diese Anwendungen aber nie geben. Es bleibt nur noch übrig, die praktische Bezogenheit der jeweiligen Meinungen mit zu reflektieren (Praxisphilosophie, Reflexion der Reflexion).

Tatsächlich kam die "Neue Systemtheorie", die sich besonders auf die Unvorhersagbarkeit von Strukturbrüchen (im Gegensatz zur vorher doch eher auf (fließende) Gleichgewichte konzentrierten Allgemeinen Systemtheorie) bezieht, gerade am Ende der 70er Jahre auf, als sich die Grenzen "sozialstaatlichen" Steuerbarkeit erstmals zeigten (vgl. Müller, S. 343). Trotzdem würde ich nicht behaupten, daß die Gegner des Sozialstaats diese neuen Konzepte extra dazu erfunden haben, um Hoffnungen auf politische Interventionen zu zerstören und der Marktwirtschaft ihren "freien" profitablen Lauf zu lassen. Es gab schon auch innerwissenschaftliche und technische (Computertechnik) Entwicklungen, die zur stärkeren Orientierung auf Nichtgleichgewichts- und nichtlineare Prozesse führten. Und tatsächlich kann die sich entwickelnde Welt meiner Meinung nach auch nur eine Nicht-Gleichgewichtswelt sein.

Jetzt steht allerdings die Frage, die ich für mich positiv beantworte, ob mit diesen neuen Konzepten trotzdem etwas Sinnvolles anzufangen sei. Jedes Umgehen damit muß sich aber den erwähnten Kritiken gegenüber wappnen.

Wir dürfen keine reinen Analogie-"Kurzschlüsse" begehen, sondern die gesellschaftlichen konkreten Zusammenhänge und Interessen stets mit reflektieren und ihren Kern im Gesellschaftlichen, Menschlichen selbst suchen, nicht in irgendwelchen nichtlinearen Formeln oder Systemgesetzen.

Die Modelle der Selbstorganisation entlassen die Politiker scheinbar von ihrer Steuerungsverantwortung. In dieser weltanschaulichen Wirkung werden sie einerseits propagiert, andererseits wiederum kritisiert. In diesem Gegeneinander gelangen beide Seiten nicht zu einer anderen, naheliegenden Interpretation:

Für mich war seit 1987 die Selbstorganisation das Hauptargument für eine Rückeroberung der Selbst-Bestimmung als Subjekt in selbstgewählten (und -organisierten) Gemeinschaften gegen die jeweiligen Gesellschafts-System-"Logiken".

Nun ersetzt allerdings kein Selbstorganisationkonzept die Gesellschaftstheorie. Dies zeigen gerade schon die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, die von eher konservativen Ansätzen (Luhmannsche Systemtheorie, Autopoiesis) bis zu eher revolutionskonzeptionellen Ansätzen (Cropp) reichen. Da hilft kein Glaubenskampf, sondern nur ein Eindringen in das Wesen menschlicher und gesellschaftlicher Prozesse.

Tiefergehende inhaltliche Ausführungen dazu sind für den zweiten Band meines Buches "Daß nichts bleibt, wie es ist..." geplant. An inhaltlicher Diskussion dazu bin ich deshalb sehr interessiert.

Literatur:

Brügge, P., Der Kult um das Chaos (I bis III), DER SPIEGEL 39,40,41/1993
Cropp, H., Chaostage, der Demokratietest alle Jahre.1996
Cropp, H., Entwurf für ein Chaos-Manifest, Juli 1996
Harcy, A., Turbulenzen beim Geld, Neues Deutschland 26. November 1996
Landfried, C., Politikorientierte Folgenforschung. Zur Übetragung der Chaostheorie auf die Sozialwissenschaften. Speyer 1993
Müller, K., "Katastrophen", "Chaos" und "Selbstorganisation". Methodologie und Sozialwissenschaftliche Heuristik der jüngeren Systemtheorie. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Heft 88, 22. Jg. 1992, Nr.3
Paoli, D.d., Schöpfung ohne Chaos. FUSION. 11(1990) 4
Peters, T., "Das Tom Peters-Seminar - Management in chaotischen Zeiten". Nach WirtschaftsWoche Nr. 9, 23.2.1995
Probst, G.J.B., Selbstorganisation. Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht. Berlin und Hamburg 1987
Rojas, R.: Chaos als neues naturwissenschaftliches Paradigma. Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Heft 88, 22. Jg. Nr. 3
S.F., Diskussionspapier Bremen 1993
Tichy, R., Mehr Chaos, bitte. Woche

siehe auch:

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