Die Ökonomismus-Falle

 

"Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, sondern der Markt. ...
Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet." (H.-O. Henkel, SZ 30.5.96)

 

"Zuerst müssen die Menschen sich ernähren, kleiden, wohnen ... bevor sie Kunst, Kultur etc. machen können" (Marx) - ist der früher oft zitierte "Beweis" für die Notwendigkeit der Dominanz des Ökonomischen im Leben.

Natürlich können wir verhungernden Kindern nicht vorrangig mit Theater und Büchern helfen, die brauchen zu essen. Andererseits war es schon immer typisch für Menschen, sich auch unter schlechten materiellen Bedingungen geistig-kulturell als kreative Persönlichkeiten zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Da ja die Art und Weise der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse bisher auch noch nicht an ein qualitatives Ende gestoßen ist, könnte der oben zitierte Satz auch bedeuten, daß die Menschen tatsächlich erst eine Villa, ein Superauto pro Person, täglichen Modewechsel etc. brauchen, ehe sie an "höhere" Kultur denken. In dieser Hinsicht würden wir nur immer materiellen Bedürfnisbefriedigungen hinterherhetzen müssen, ehe wir uns den Luxus geistig-kultureller Entwicklung leisten können.

Interessanterweise waren frühere Jahrhunderte nicht diesem Streß unterworfen, sondern während des Mittelalters wurde nicht mehr als die Hälfte der Tage im Jahr gearbeitet. "Die monströse Ausdehnung des Arbeitstages ist für die Anfangsstadien der industriellen Revolution insofern charakteristisch, als man die Arbeiter gleichsam mit den neu eingeführten Maschinen konkurrieren ließ." (Ahrendt, S. 451)

Das Ökonomische zielt auf die stofflich-energetische Reproduktion der Menschen.

Reproduktion gibt es auch auf biotischer Ebene. Sie auf menschliche Art und Weise zu realisieren kennzeichnet das Menschsein.

Einerseits könnte man diese stofflich-energetische Reproduktion vergleichen mit der Funktion der physikalischen Gesetzmäßigkeiten in lebenden Organismen: Ihnen (den physikalischen Prinzipien) darf nichts widersprechen, sonst stirbt der Organismus - aber ansonsten interessieren sie uns auf der Ebene der Biologie überhaupt nicht mehr. Dies ist angestrebt, wenn Marx hofft, auf einer entwickelten Stufe der produktiven Kräfte das wirkliche "Reich der Freiheit" zu erreichen. Dann sollen Menschen nicht mehr tun, was sie Sachen für sich tun lassen können (MEW 42, S. 244). Die zur eigenen Reproduktion notwendige Arbeit nimmt dann (fast/gar) keinen Raum der Lebenstätigkeit mehr ein.

Andererseits aber kann auch diese Reproduktion auf menschliche, kulturvolle Weise realisiert werden - die Frauen in Juchatán ackern nicht an der Erhöhung irgendwelcher Produktivkräfte ab, um dann von der Arbeit befreit zu werden - sondern sie leben ein reiches, arbeits- und freudvolles Leben, bei dem die Kultur über die ökonomischen Beziehungen dominiert.

Dieses eine Beispiel beweist, daß zumindest die in den industrialisierten Ländern eingeimpfte Denkweise, daß noch-nicht-kapitalistisch identisch mit Unterentwickeltsein bedeute, einseitig ist. Es wird dabei unterstellt, als lebten alle (noch-)nicht-kapitalistischen Gemeinschaften in lauter Elend und Not und erst die neuen produktiven Kräfte verhülfen ihnen zu einem besseren Leben ("Entwicklung", "Modernisierung", "Zivilisierung"). Frühkapitalistische Zustände werden nahtlos in noch entferntere Vergangenheit projiziert, Pest, Hungersnöte etc. als Wesenskennzeichen der Frühzeit interpretiert. Daß viele der elenden Zustände erst im Frühkapitalismus erzeugt wurden, wird dabei verschwiegen. In den jetzt erst neu kolonialisierten Ländern können wir es aber unmittelbar beobachten (Mexiko, Indien, Ostasien...). Zerstörung der Subsistenz, Raubbau an Natur und Arbeitskräften - dabei läßt sich dann das gerade erzeugte Elend medienwirksam "gut" verkaufen...

Karl Marx ging auch von der Annahme des Fortschritts durch Produktivkraftentwicklung aus. Er hoffte, über die historisch realisierten gesellschaftlichen Formen hinaus auf eine Gesellschaft, in der erstens die "Opfer" dieser Entwicklung nicht mehr nötig sind, und zweitens überhaupt die produktivistischen, ökonomischen Erfordernisse das Leben der Menschen nicht mehr dominieren. Er sah z.B. die kapitalistische Produktivkraftentwicklung zwar als historisch notwendig an, aber nur, wenn sie schließlich in diesen höheren Zustand überführt wird. Dies folgt der Hegelschen Dialektik, daß jeder Zustand einen neuen, höheren hervorbringt, und sich dadurch als notwendiger Zwischenschritt zum höheren erweist.

Problematisch wird dabei der Umgang mit den nicht-kapitalistischen Lebensformen. Die amerikanischen Indianer wurden von Marxisten z.B. ständig auf ihre "Unterentwickeltheit" hingewiesen, ihnen wurde offeriert, klassenbewußte marxistische Kämpfer zu werden, und ihre "romantischen" Neigungen fallenzulassen (siehe Churchill). Auch die Subsistenzperspektive kommt in Widerspruch zum marxistischen Produktivitätsentwicklungskonzept (Bennholdt-Thomsen, Mies).

Für mich bedeuten diese neuen Erkenntnisse, das Dogma vom Primat der Ökonomie zu relativieren.

Erstens dürfen andere Lebensgemeinschaften diesem Primat nicht unterworfen werden, wenn es sich nicht von selbst bei ihnen entwickelt hat (was Marx für konkrete Fälle auch so sah, siehe Brief an V.Sassulitsch in MEW 19, S. 384ff.). Erfahrungsgemäß profitieren sie i.a. selbst am wenigsten von der ökonomischen "Modernisierung", sondern speisen höchstens die Börsenbooms. Und sogar wenn ihnen dabei produktivere Kräfte zuwachsen, müssen sie selbst entscheiden können, ob sie sie wollen. Wenn nicht, darf sie ihnen niemand aufzwingen dürfen... (Nachweislich entstanden viele - wenn auch nicht alle - Ursachen für ökologische Probleme bei diesen Völkern erst durch das Eingreifen der industrialisierten Länder, sonst hätten diese Lebensformen nicht vorher Jahrtausende überlebt).

Die Relativierung des Primats der Ökonomie bezieht sich zweitens in Europa selbst auf die historischen Bedingungen:

  • Sogar an der Wiege unserer Kultur, in Griechenland, war das Ökonomische das dem wesentlichen, öffentlichen Leben in der Polis geradezu entgegengesetzte und untergeordnete Lebensfeld (Ahrendt).
  • Nach Polanyi dominiert auch her das Ökonomische erst seit Beginn des Kapitalismus alle anderen Lebenssphären (nach Ahrendt, S. 51ff.)

Gerade jetzt, wo in den Theorien die Dominanz des Ökonomischen als Dogma verteufelt wird, setzt sich im Prozeß der sog. "Globalisierung" das ökonomisch-marktwirtschaftliche Steuerungssystem gegenüber dem staatlich hierarchischen und der netzwerkartigen Zivilgesellschaft (Altvater, Mohnkopf, S. 29) endgültig als dominant durch.

Tatsächlich leben wir mit einem realen Primat des Ökonomischen - unser Ziel sollte aber sein, es zu beseitigen.

Die Notwendigkeit des Sozialismus vor dem Kommunismus wird i.a. durch das "notwendige Schaffen der materiellen und geistigen Bedingungen" begründet. Es wird nie gefragt, wann die Bedingungen denn "reif" sind. Meiner Meinung nach sind sie es längst! Weder noch mehr technische Produktivkräfte noch "erzogenere" Menschen werden gebraucht. Wir brauchen keine "Vorschule" mit disziplinierendem Arbeitszwang vor der endgültigen Befreiung der Arbeit und von der Arbeit. Meine Behauptung ist: Wir könnten unser Leben auf den erreichten Grundlagen (und unter Zurückweisung einiger "Errungenschaften" wie Atomkraft...) sofort anders gestalten.

Nach dieser Klarstellung muß ich natürlich noch einmal einen Schritt zurück in die derzeitige Realität gehen. Und hier muß ich konstatieren, daß ich mich durchaus noch mehr mit der Ökonomie beschäftigen muß, als mir recht ist und ich möchte.

Ausgerechnet in der Zeit, in der die produktiven Kräfte der Menschen so weit entwickelt sind, daß die Marxschen Visionen des "Reiches der Freiheit" spätestens realisierbar sind und die destruktiven Wirkungen überhand nehmen - vollführt die ökonomistische Denkweise und ihre realen Strukturen einen neuen Siegeszug über den Erdball. Die Internationalisierung des Kapitals als "Globalisierung" unterwirft die letzten Refugien nicht-ökonomie-dominierten Lebens innerhalb der schon industrialisierten Länder und außerhalb. Ökonomismus setzt sich auch kulturell immer mehr durch. "Alles muß sich rechnen" - war auch in wesentlich ärmeren Zeiten noch nie so sehr das Dogma wie in unserer materiell reichen Welt.

Der Hintergrund dafür ist die reale Erpreßbarkeit von jede/r Einzelnen von uns über den Arbeitsplatz sowie der Staaten über Staatsverschuldung und Abhängigkeit vom nationalen oder internationalen Kapital. Rettung und Ausweg ist hier: die Zurückgewinnung der eigenen Überlebensfähigkeit in Unabhängigkeit vom Kapital - welche Strategie des Vorgehens das erfordert (wahrscheinlich eine Kombination vieler vorgeschlagener) ist eine andere Frage...

Innerhalb der (real -kapitalistischen) Machtstrukturen hat die Ökonomie eine wesentliche Rolle inne. Obwohl die verschiedenen Machtformen: militärisch/ökonomisch/demographisch/finanziell/kulturell... ungleich gewichtet sind, ist es "dennoch wahrscheinlich, daß die verbleibende Macht in wachsendem Maße ökonomisch bestimmt sein wird." (Tucker nach Deppe, S. 151)

Dabei spielt die Politik eine wichtige stabilisierende Rolle, woraus aber auch noch Chancen für politische Einflußnahmen erwachsen.

Einerseits stabilisiert die reale Politik ökonomische Machtverhältnisse (Regulierung, Disziplinierung, Repression von Alternativen, monetäre und außenpolitische Aktionen zur Erhöhung der Macht des einheimischen Kapitals...) und wird in dieser Funktion auch angesichts der weiteren Globalisierung in ihrer Bedeutung sogar wachsen. Andererseits setzt die Ökonomie nicht allein das gesamte gesellschaftliche Wechselwirkungsnetzwerk der Menschen, sondern wird von diesem geformt. Erst realisierte Interessenkonstellationen entscheiden über die realisierten Pfade aus dem Möglichkeitsfeld ökonomischer Entwicklungen.

Es gibt keine 100%ige Bestimmung des jeweiligen Entwicklungsweges in allen seinen Formen ("Sachzwang"). Es bleibt ein Gestaltungsspielraum entsprechend dem realen Kräfteverhältnis, das aber wiederum nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv bestimmt ist. Verschiedene Regulationsweisen (eingespielte Normen und Institutionen, welche die individuellen Erwartungen und Verhaltensweisen beständig auf die Gesamtlogik des Akkumulationsregimes einstellen) für verschiedene Akkumulationsmodi (Arten und Weisen der Mehrwertproduktion und -realisierung, die abhängig sind von den Formen der Kapitalreproduktion, Klassenstrukturen, Staatsinterventionen...) eröffnen Möglichkeitsfelder für politische Einflußnahme durch Staat und Zivilgesellschaft (Parteien, Vereine, nichtstaatliche Körperschaften, wissenschaftliche Institutionen). Allerdings erst einmal nur innerhalb der ökonomisch und speziell kapitalistisch beherrschten Gesellschaftsstruktur. Aber auch hier kommt es darauf an, die Keime für Neues zu legen, zu erhalten, die Bedingungen für einen nicht gewaltsamen Umbruch zu verbessern.

Bei aller scheinbaren Ohnmacht gegenüber dem Durchsetzungsvermögen antisozialer, ökologisch zerstörerischen ökonomischer Macht (z.B. jetzige MAI-Verhandlungen) bleibt uns die Verantwortung, in diesen Interessenkonstellationen unseren Anteil an Willen und Kenntnis einzubringen...

Ahrendt, H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1997
Altvater, E., Mahnkopf, B., Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster 1997
Bennholdt-Thomsen, V., Mies, M., Die Subsistenzperspektive. Eine Kuh für Hillary, München 1997
Churchill, W., (Hrsg.), Das indigene Amerika und die marxistische Tradition, Bremen 1993
Deppe, F., Jenseits der Systemkonkurrenz. Überlegungen zur neuen Weltordnung, Marburg 1991
Marx, K., (1881), 1. Entwurf Brief an Sassulitsch, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 19

 


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