Philosophie in der DDR
(Frank Richter, Freiberg)
Abschnitt 3: Theologen wider
den Materialismus
Natürlich könnte man eine Bestandsaufnahme zum Thema Materialismus und
Idealismus auch in der Geschichte beginnen, etwa mit Thales oder Demokrit,
Heraklit und Plato - oder gleich bei den philosophierenden Indern und Chinesen.
Das wird aber schon in dem Moment problematisch, da gefragt wird, ob in jener
frühen Zeit philosophischer Reflexion das Schema Materialismus und Idealismus
überhaupt schon greift bzw. ab wann man es denn eigentlich verwenden darf.
Insofern ist Geschichte eben doch auch abhängig von aktuellen theoretischen
Fragestellungen, und damit bietet es sich an, eher mit letzteren zu beginnen.
Eine Geschichte des Materialismus bzw.
Idealismus soll es ja sowieso nicht werden. Daß die ganze Kontroverse überhaupt
problematisch sein könnte, ist schon angekündigt worden. Die politische Wende in
der DDR bot natürlich auch Gelegenheit, über die philosophische Arbeit in den
vergangenen vierzig Jahren zu sprechen. Die ziemlich rasche Neuprofilierung der
Deutschen Zeitschrift für Philosophie bot u.a. dafür ausreichend Raum und
Gelegenheit, wobei Rechtfertigungen selten, Kritiken und Abrechnungen dagegen
häufig vorkamen. Das war schon ganz richtig so, andersherum wäre es doch
peinlich gewesen. Doch so ganz ausgewogen erschienen mir die Proportionen auch
wieder nicht; so fand z.B. ein Aufsatz des Berliner Theologen Richard Schröder
zum Thema „Grundfrage der Philosophie. Hinweise zur anstehenden philosophischen
Vergangenheitsbewältigung in der DDR" (1) meines Wissens keine explizite
Reaktion. Zunächst sind die Grundpositionen Schröders wenigstens annähernd
wiederzugeben: 1. Der Aufsatz beziehe sich durchgehend auf Arbeiten von
Alfred Kosing als gültigem Vertreter der in der DDR öffentlich relevant
gewordenen Fassung der Lehre von der Grundfrage der bzw. aller Philosophie.
2. Diese Lehre ist ein Hohn auf die Philosophie, zumal sie auch den Zugang
zu dem, was Marx bewegt hat, gründlich verstellt. 3. Die These vom Kampf
zweier Linien ist dualistisch und undialektisch und gleichzeitig eine Denkfigur,
die fatal an die stalinistischen Schauprozesse erinnert. 4. Die These vom
Bewußtsein als einem Produkt der Materie läßt sich nicht zwingend aus der
Evolutionstheorie ableiten. 5. Beim Versuch, Materie als unabhängig vom
Bewußtsein existierende Außenwelt zu bestimmen, geraten wir in ein kategoriales
Chaos. 6. Die Bestimmungen des Bewußtseins als „Produkt und Eigenschaft der
Materie" sind mit unserer Selbsterfahrung nicht kompatibel und insofern keine
Antwort auf die Frage nach dem Bewußtsein. 7. Gehirnfunktionen können nicht
mit Bewußtsein gleichgesetzt werden. Insofern bestehen die Aussagen Kosings aus
disparaten Sprachelementen in sachfremdem Kontext. 8. Die ethisch-moralische
Dimension des Bewußtseins entgeht Kosing vollkommen, das paßt zu der Tatsache,
daß die Ethik bis heute der schwache Punkt im bisherigen Marxismus-Leninismus
geblieben ist. 9. Kosings Bestimmungen des Idealismus behandeln die größten
Denker des Abendlandes wie dumme Jungen; sie konstruieren ein Feindbild um der
eigenen Stabilität willen. 10. Man tut Marx und Engels Unrecht, wenn
man sie zu den Vätern einer solchen Lehre erklärt. Sie reduzierten die
Geschichte der Philosophie nicht auf einen Linienkampf, sie verstanden sich
weder als Materialisten noch überhaupt als Philosophen und schon gar nicht als
Ideologen. 11. Die entscheidende Positionsbestimmung für Marx und Engels
findet sich in deren Ideologiekritik, und nicht etwa in der Frage nach der
Weltschöpfung, die - was Engels selbst betont - für die vorchristliche
Philosophie überhaupt kein Thema war. Für Engels ist die Grundfrage dann
wiederum mit dem Ende der Philosophie selber erledigt. 12. Noch fehlt uns
die Antwort auf die Frage: Wie geriet die marxistische Philosophie in die
klägliche Lage, in der wir sie nun antreffen? Die entscheidende Ursache dafür
liegt aber offensichtlich in einem Wandel des Theorieverständnisses in der
Geschichte des Marxismus, der von den Frühschriften über die Konzipierung eines
wissenschaftlichen Sozialismus durch Engels und die Wiederaufnahme des
Ideologiekonzeptes durch Lenin reicht, wobei dann Stalin in dieses Muster seine
Kodifikation des dialektischen und historischen Materialismus eingefügt habe.
Insofern geriet das Programm einer „massenhaften Verbreitung der
sozialistischen Ideologie" zu einem solchen der entmündigenden
Bewußtseinsverwaltung.-
So weit der Versuch, den Aufsatz Schröders zusammenzufassen und damit eine
Grundlage für die Diskussion zu haben. Wenn Schröder Recht hat, dann ist wohl
dieser Eindruck nicht verkehrt: Es ist so, als ob die ganze Decke einstürzt,
alles zerschlagend und mit sich reißend, was vielleicht doch noch zur Erklärung
und Rechtfertigung vorgebracht werden könnte. Es geht um die Rolle der
DDR-Philosophie als Ganzes, und wenn die Problematik der Grundfrage der
Philosophie - die ja dann vor allem die Grundfrage des dialektischen und
historischen Materialismus war und ist - tatsächlich so dilettantisch traktiert
worden ist wie Schröder meint, so kann hier wirklich niemand mehr helfen. Die
theoretischen Mängel sind ja dann als Existenzbedingung nicht nur der
DDR-Philosophie, sondern geradezu der gesamten DDR-Gesellschaft zu erklären und
befanden sich damit außerhalb jeglicher Korrekturmöglichkeit. Wenn ein
„Philosoph" das nicht zu erkennen vermag, dann war er eben keiner... Nun
haben sich aber auch Persönlichkeiten wie der griechische Philosoph Platon
hinsichtlich der Möglichkeit geirrt, Staatswesen und Staatslenker durch
Philosophie verbessern und läutern zu können - und niemand spricht deshalb
Platon das Attribut des Philosophen ab. Das tut auch Karl R. Popper nicht, der
die platonische Philosophie für dieses Konzept allerdings energisch
kritisiert.(2) Der Versuch von DDR-Philosophen, Gleiches zu tun, und das dürfen
wir ihnen wohl in der Mehrzahl unterstellen,(3) muß also differenzierter
bewertet werden, als dies Schröder tut. Für Peter Ruben ist die deutsche
Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg - und damit auch die Geschichte der
DDR-Philosophie - die historische Folge der mörderischen Aggression, die das
nationalsozialistische Deutschland gegen die Völker Europas und der Welt
unternommen hat. Die DDR ist gleichzeitig als die deutsche Gestaltung einer
Parteinahme aufzufassen, die wenigstens seit der Novemberrevolution von 1918
politisch präsent ist und in der die Vorstellung von einer revolutionären Lösung
der sozialen Frage verwirklicht werden sollte. Diese Parteinahme sei durch den
Herbst 1989 nicht als null und nichtig erklärt worden, sondern als beendet und
daher als gegebene Voraussetzung weiterer Entwicklung bestimmt.(4) Freilich
muß man nun wieder fairerweise den Gedanken ins Spiel bringen, daß schon vor
1918 bzw. 1917 ein theoretischer Wandel im Marxismus eingetreten war, der
natürlich auch dessen Philosophie und damit die theoretischen Reflexionen über
jene anzustrebende soziale Revolution wesentlich beeinflußt hat. Hier entsteht
bereits jener Zirkel von „Wahrheit und Parteilichkeit", aus dem man solange
nicht herauskommen kann, wie man Entwicklung der marxistischen Philosophie
ausschließlich von ihren sozialen Voraussetzungen und Wirkungen her beurteilt.
Offensichtlich müssen ganz konkrete historische Situationen und die persönlichen
Biographien der Betroffenen herangezogen werden, um erklären zu können, warum
sich Philosophen in diese Zirkularität hineinbegeben haben bzw. sich aus ihr
nicht lösen konnten oder wollten. Erst so könnte deutlich werden, wie
persönliche Entscheidungsspielräume und schicksalhafte Fremdbestimmung
miteinander in Wechselwirkung gerieten und ganz individuelle Persönlichkeiten
heranwuchsen, die in der DDR zumeist in der SED und mit der SED philosophisch
arbeiten wollten - selbst wenn sie durch diese Partei, deren maßgebende
Funktionäre in den entsprechenden Situationen häufig ja selber Philosophen
waren, in ihrer Arbeit, in ihrem ganzen Lebenslauf beeinflußt und z. T. massiv
behindert wurden. Das ging bis zu Berufsverbot, entsprechenden „Praxiseinsätzen"
und Gefängnis. Zu diesen Kategorien gehörte ich, wie die meisten meiner
Kollegen, nicht. Während meines Studiums der Metallkunde an der Bergakademie
Freiberg von 1956 bis 1961 traf ich zwei Entscheidungen, die mein Leben
bestimmten: Ich stellte den Antrag, Kandidat der SED zu werden - was mit
Karrierismus nichts zu tun hatte, denn unser Professor war alles andere als
sozialismusfreundlich. Aber gerade das reizte mich, und außerdem schämte ich
mich, nur „theoretisch", kontemplativ, für die Sache des Sozialismus zu sein,
die ich unbedingt für gut hielt, ungeachtet aller Probleme bei ihrer
Verwirklichung. Die zweite Entscheidung nun betraf die Hinwendung zur
Philosophie, wozu ich an anderer Stelle schon das Notwendige gesagt habe.
Berücksichtigen wir die allgemeine politische Situation damals, welche zum
einen immer noch durch die Orientierungen des XX. Parteitages der KPdSU auf
Beseitigung von Dogmatismus und Personenkult propagandistisch, praktisch aber
schon längst wieder im Nachgang zu den Ereignissen in Ungarn (alles im gleichen
Jahr 1956) auf politische, nun schon wieder dogmatische Zuspitzung auch
innerhalb der Partei hin bestimmt war, so wird verständlich, warum Herbert Hörz
sich nicht als politischer Philosoph, sondern als Wissenschaftsphilosoph
verstehen wollte, als er nach der Wende Stellung zu seiner Rolle in der DDR
bezog.(5) Das ist falsch und richtig zugleich, wobei es mir hier nicht um die
Person von Herbert Hörz geht, sondern um die Frage, ob es so etwas wie
„Nischenphilosophie" überhaupt geben kann und ob politische
Verantwortungslosigkeit nicht gerade darin bestehen konnte, sich in eine Nische
zurückzuziehen und - ich sage es einmal vulgär - die Drecksarbeit andere machen
zu lassen. Nun galten Philosophen aus der Sicht vieler Parteifunktionäre sowieso
nicht unbedingt als die verläßlichsten politischen Kader, hier schienen immer
Gefahren für die ideologische Einheit und Reinheit in der SED zu bestehen. Schon
der kleinste Ansatz zu mehr Selbständigkeit und Meinungsstreit wurde mit
Mißtrauen beobachtet und dann bekämpft. Arbeitete man dann später an einer,
zumal noch relativ kleinen Sektion Marxismus-Leninismus, in der die Philosophen
kaum unter sich, sondern fast immer im Gespräch mit den anderen „Bestandteilen"
waren, so konnte von „Nische" kaum geredet werden, obwohl eine gewisse
Sonderstellung immer geblieben ist. Innerhalb dieses Bedingungsgefüges gab
es dann tatsächlich gewisse Spielräume, bis hin zu der Grenzsituation, diese
Profession tatsächlich aufzugeben. Für wen das nicht in Frage kam, der mußte
einen anderen Weg finden. Natürlich spielten in dieser Ebene dann auch
Karriereabsichten und Sozialprestige eine Rolle, aber auch Beziehungen, die zu
Naturwissenschaftlern und Ingenieuren entstanden waren. Diese hatten uns zu
akzeptieren gelernt, nachdem sie dieser neuen Gilde von Philosophen anfangs
durchaus zurückhaltend und mißtrauisch begegnet waren. Weiterbildungen, z. B. in
Gestalt der sog. marxistisch-leninistischen Abendschule („MLA"), aber auch
weiterführende Lehrveranstaltungen für die höheren Studienjahre, wir nannten das
auch ML-de luxe, fanden überwiegend positive Resonanz, weil die Teilnehmer das
Bemühen um neue Ansätze und Problemlösungsstrategien sahen und akzeptierten.
Freilich wurde es in den letzten Jahren der DDR, zumal nach der restriktiven
Reaktion der Führung der SED auf Gorbatschow, immer schwieriger, philosophische
Ansprüche und bestehende Realität miteinander zu vermitteln. Vielleicht so
viel aus meiner Sicht zur politischen Situation von DDR-Philosophen; was sich
darüber hinaus in den Führungsetagen abgespielt hat, muß zu schildern denen
überlassen bleiben, die dort tätig waren. So viel ist jedenfalls klar: Es gab an
Hochschulen die Möglichkeit, eine solche Atmosphäre zu schaffen, in der um
theoretische Probleme gestritten werden konnte - wenn es uns schon nicht gelang,
sie in einem für die Gesellschaft relevanten Sinne zu lösen. Das könnte ich
nun ausführlich an dem Fall erläutern, wie zu dem von R. Schröder angesprochenen
Problem der Grundfrage der Philosophie durchaus versucht werden konnte, über
bestimmte Positionen von A. Kosing und anderen hinauszukommen, ja selbst an dem
sakrosankten Leninschen Materiebegriff Veränderungen vornehmen zu wollen.
Insofern ist die Beschränkung Schröders auf die Person und Position Kosings
bedauerlich, weil sie die Tatsache zudeckt, daß es doch auch in der DDR ein
philosophisches Leben gegeben hat, das sich auf die von Schröder zunächst
richtig gezeigten Begrenzungen dann doch nicht reduzieren läßt. Ob sich die
DDR-Philosophen statt dessen über 40 Jahre lang hätten in die innere oder äußere
Emigration begeben sollen, müssen wohl eines Tages diejenigen beantworten, die
unsere Gesprächspartner waren. Meine erste, als solche bewußt empfundene
philosophische Erfahrung war, daß die modernen Wissenschaften Schwierigkeiten
mit dem philosophischen Materialismus haben und umgekehrt. Ich bedauerte diesen
Zustand und wollte gleichzeitig die Ursachen dafür kennenlernen. Am Lehrstuhl
für philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften in Berlin fand ich
dafür viele Partner und Gleichgesinnte, wenngleich die Zahl derjenigen weitaus
kleiner war, die die Ursachen für die Komplikationen zumindest auch im
jeweiligen Zustand des Materialismus sehen wollten. Wenn Physiker wie Einstein
oder Heisenberg den Materialismus für überholt und dann wie der letztere lieber
bei Platon Ausschau hielten, ob sich dort eine Philosophie findet, die zur Welt
der Elementarteilchen besser paßt, so gab es natürlich immer die Möglichkeit,
auf folgende Weise zu argumentieren: Sie kennen offensichtlich nicht den
besseren, den dialektischen Materialismus, sondern nur den schlechteren, den
mechanischen oder metaphysischen, wie wir mit Engels sagten. Wenn sie den
ersteren aber nicht kannten, obwohl sie doch die Gelegenheit dazu hätten (sie
brauchten ja nur Engels oder Lenin zu lesen), dann konnten es nur politische
Gründe sein, daß sie es nicht taten. Damit war es keine Frage des Materialismus
mehr, sondern eine politische, und es kam darauf an, die Wissenschaftler von der
Richtigkeit und Gültigkeit des marxistischen Materialismus zu überzeugen.
Insofern es so war, hat Schröder mit seiner Feststellung recht. Aber, wie
gesagt, es war nicht nur so. Im Bereich des Lehrstuhls wurde zum
Determinismuskonzept gearbeitet, zum Widerspiegelungsbegriff (da z.B. eine
Analyse der mathematischen Denkweise sehr schnell einen mechanizistischen,
naiven Abbildbegriff widerlegt), zur Entwicklungsproblematik in der Biologie und
Genetik und vieles andere mehr. Hermann Ley, Herbert Hörz oder auch Rolf Löther,
Hubert Laitko und später Karl-Friedrich Wessel sollen hier genannt werden, um
die sich mehrere Generationen von Absolventen des Lehrstuhls scharten. Die Zahl
der Publikationen zu den genannten und anderen Themen ist Legion, und die von
dieser Schule in vielen Jahren organisierten Konferenzen, verstreut über die
ganze Republik, haben das geistige Leben an den Hochschulen schon nicht
unbeträchtlich mitbestimmt. Das wird man nicht wegdiskutieren können, auch wenn
eine genauere Analyse Defizite deutlich macht, die offensichtlich politischen
Bedingungen geschuldet sind, und wo vorauseilender Gehorsam und die
berühmt-berüchtigte Schere im Kopf vielleicht doch Denkbares und Mögliches
verhinderten. Eine umfassende Analyse und Kritik der politischen und
antiwissenschaftlichen Wirkungen des sowjetischen Biologen T. Lyssenko - also
des Versuches, wissenschaftliche Sachfragen politisch zu „entscheiden" (was ja
nur in der Liquidierung der Forschungsrichtung, wenn nicht sogar des Forschers
selber bestehen kann) - hat es in der DDR durch Philosophen m. W. bis zur Wende
nicht gegeben, wenn ich davon absehe, daß H. Hörz zur Kennzeichnung politisch
deformierter Wissenschaft den Begriff „Lyssenkoismus" verwendet.(6) Im
Wörterbuch „Philosophie und Naturwissenschaften" (Dietz Verlag Berlin, 2.Aufl.)
gibt es kein Stichwort „Lyssenkoismus". Deutlicher haben sich da die Biologen
selber geäußert.(7) Die spätere Bildung eines separaten Lehrstuhls für
philosophische Probleme der Gesellschaftswissenschaften trug - trotz
anfänglicher mehr oder weniger ernstgemeinter gegenteiliger Versuche - dazu bei,
das Gebiet Philosophie/Natur- und Technikwissenschaften aus allgemeineren
philosophischen Erörterungen herauszuhalten. Herbert Hörz nannte den an der
Akademie der Wissenschaften gebildeten Bereich „Philosophie/Wissenschaften",
obwohl die wesentlich von ihm geschriebene „Philosophische Entwicklungstheorie"
(8) dann doch wieder weitgehend auf die Naturwissenschaften bezogen war.
Andererseits ergaben sich dadurch auch wieder Freiräume, und es konnten
wenigstens auf diesem Gebiet neue Überlegungen, etwa zum Gesetzesverständnis,
angestellt werden. Die umfassendste Blockierung gab es jedoch zur
Materialismus-Theorie selber. Natürlich zählen Fragen des Determinismus oder der
Entwicklungstheorie im weiteren Sinne zum philosophischen Materialismus; die von
R. Schröder angesprochenen Fragen blieben jedoch zumeist außen vor. Dabei hätte
es ja durchaus die Möglichkeit gegeben, aus philosophischen Reflexionen zur
Kosmologie, zur Gehirnphysiologie oder zur Evolution im Anorganischen wie
Organischen Konsequenzen für die materialistische Beantwortung der Grundfrage
der Philosophie zu ziehen. Das geschah entweder gar nicht oder wenn doch, dann
eher restriktiv: Die Entwicklung „realistischer" Konzepte wurde immer als ein
Angriff auf den Materialismus gewertet.(9) Der u.a. von Schröder zum Gegenstand
seiner Polemik mit Kosing genommene Aufsatz in der Deutschen Zeitschrift für
Philosophie aus dem Jahre 1969 war jedoch schon einmal - und zwar im Jahre 1972
- erörtert und kritisiert worden.(10) Es ging mir dabei im wesentlichen um
folgende Punkte: 1. Um dem philosophischen Materialismus das Image des
naiven Alltags- und Wissenschaftsrealismus zu nehmen, muß der Kontext genau
beachtet werden, in dem der Materiebegriff verwendet wird. Ein einfaches
Austauschen des Materie- und des Gegenstandsbegriffs führt sonst zu
Konstruktionen wie „subjektunabhängige Gegenstände der Erkenntnis". Der immer
erforderliche Zugriff des Subjekts auf seine Gegenstände wird dabei nicht
deutlich, und es wird an einem Erkenntnisbegriff festgehalten, den schon Marx in
seiner ersten These über Feuerbach kritisierte. In diesem Zusammenhang ist dann
tatsächlich präzise zwischen Materialismus und Realismus zu unterscheiden wie
auch zwischen den Beziehungen Materie/Bewußtsein und Objekt/Subjekt. 2. Wenn
- wie Kosing es tat - die Grundfrage der Philosophie als Ausdruck des
theoretischen Verhältnisses von Materie und Bewußtsein verstanden wird, dann ist
unklar, wieso innerhalb dieser Frage auch das sogenannte strukturelle wie das
genetische Primat der Materie gegenüber dem Bewußtsein ihre Behandlung finden
können. Ob und wie die Materie das Bewußtsein „genetisch", also über die
Evolution hervorgebracht hat, und wie Materie und Bewußtsein im Kopf des
Menschen, also im Gehirn zusammenhängen, muß dann Gegenstand eines
philosophischen Materialismus sein, der weit über die Grundfrage der Philosophie
hinausgeht. 3. Auch die Debatte um den und mit dem sog. objektiven
Idealismus ist mit der materialistischen Beantwortung der Grundfrage noch nicht
entschieden, insofern ist die Grundfrage „nur" der theoretische Kern des
Materialismus und nicht die ganze Theorie selber. 4. Da im Marxismus unter
„Materie" nicht nur Vorgänge, Strukturen und Dinge in der Natur, sondern auch
entsprechende gesellschaftliche Prozesse usw. verstanden werden, können die bei
Kosing vorkommenden „ontologischen" Bestimmmungen keinesfalls auf das Verhältnis
von Materie und Bewußtsein generell zutreffen, selbst wenn man sie für die
Beziehung von Natur und Bewußtsein akzeptiert. 5. Letztendlich habe ich
damals den Versuch unternommen, die auch von Schröder angemerkte Problematik der
Relation des „außerhalb" in der Bestimmung des Materiebegriffs durch Lenin und
damit also des Verhältnisses von Materie und Bewußtsein zu erörtern, indem ich
vorschlug, sie aus der Definition herauszunehmen. Zwischen Materie und
Bewußtsein kann es keine räumlichen Beziehungen geben.- Ich freue mich heute
noch darüber, den Artikel geschrieben zu haben, obwohl ich beim nochmaligen
Lesen, vor allem im Anfangsteil, Passagen finde, die sehr kritisch sehen muß:
Ich will dort die Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED mit durchsetzen
helfen und will die Auseinandersetzung mit der imperialistischen Ideologie
fördern. Von Toleranz und Dialog ist nicht die Rede - mit einer Ausnahme, wo es
um die Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Philosophen geht. Man kann aber
auch die andere Seite sehen wollen: Der Parteitag hatte die Entwicklung des
wissenschaftlichen Meinungsstreites gefordert, und als eine der Ursachen für
Probleme im Dialog mit den Wissenschaftlern verwies ich auf ungelöste
theoretische Probleme im System des philosophischen Materialismus. Es ist
m.E. für mich wie für andere auch heute sicher wenig sinnvoll, nachträglich die
freilich denkbare Position zu konstruieren, daß ich mir - zumal nach den
Ereignissen in der CSSR 1968 - damals darüber im Klaren hätte sein müssen, daß
es mit dem Meinungsstreit nichts werden konnte, weil die SED daran gar kein
Interesse haben durfte. Ich hatte die Absicht, die versprochene Möglichkeit des
Meinungsstreites einzufordern und merkte natürlich an der ersten Reaktion der
Redaktion der Zeitschrift, wie eng die Bandagen immer noch waren. Aber der
Artikel erschien dann doch, wenngleich er auch keine öffentliche Diskussion
auslöste. Der nicht gerade überzeugende Ausgang der Diskussion um die Rolle des
Praxisbegriffes in der marxistischen Philosophie wenige Jahre zuvor in der
gleichen Zeitschrift ließ die Verantwortlichen wohl davon Abstand nehmen. Zum
einen bedauerte ich das, war andererseits aber auch opportunistisch genug,
darüber nicht in Verzweiflung zu geraten. Die Diskussion wäre für mich
wahrscheinlich schlimm ausgegangen. R. Schröder hat also mehr Recht als
Unrecht, wenn wir es uns recht überlegen. Aber er hat eben nicht nur Recht.
Literatur:
1) Richard Schröder: Grundfrage der Philosophie. Zur anstehenden
philosophischen Vergangenheitsbewältigung in der DDR. In: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 38 (1990), H.11, S.1064 2) Karl R. Popper: Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde I. Der Zauber Platons. Francke Tübingen 1957 3)
vgl. dazu: Peter Ruben: Die DDR und ihre Philosophen. Über Voraussetzungen einer
Urteilsbildung. In: Dt. Z. f. Philosophie 39 (1991), H. 1, S.52 4) ebenda S.
51 5) Herbert Hörz: Wissenschaftsphilosophie in der DDR. Versuch einer
kritischen Betrachtung. In: Dt. Z. f . Philosophie 39 (1991), H.1, S.66 6)
Herbert Hörz: Wissenschaft als Prozeß. Berlin 1988, S. 47 7) z.B. Elisabeth
Günther: Die materielle Grundlage der Vererbung. In: Mikrokosmos - Makrokosmos.
Akademie Verlag Berlin. Bd. 2, 1967, S.373. Auch E. Geissler wäre hier zu
nennen. 8) Herbert Hörz und Karl-Friedrich Wessel: Philosophische
Entwicklungstheorie. Akademie Verlag Berlin 1983 9) so z.B. bei dem
ansonsten wirklich nicht ängstlichen K. F. Wessel, der ein naives
Materialismuskonzept gegen den "hypothetischen Realismus" Bernd Vollmers
verteidigt, s. dazu: H. Hörz und K.F. Wessel: Philosophische
Entwicklungstheorie, a.a.O. 10) Frank Richter: Zum Verhältnis von Grundfrage
der Philosophie und Objekt-Subjekt-Dialektik. In: Dt.Z.f.Philosophie 20 (1972),
S.1012
1996/1997
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