Das Verhältnis von Logischem und Historischem

Das Problem: Zeit und Logik  1
Idealistische Logik contra materialistische Historie?  1
Dialektik als zeitliche Entwicklung des Seins?  3
Zeitliche Entwicklung in  Natur oder Geschichte?  4
Schlussfolgerungen. 5
Das Historische und das Logische in der Kritik der Politischen Ökonomie. 6

Das Problem: Zeit und Logik

Viele Fragen der Interpretation des Hegelschen Denkens, der „Anwendungen der Dialektik“ sowie die Kritik der Politischen Ökonomie des Kapitalismus setzen einen Standpunkt dazu voraus, ob die “Entwicklung“ in Hegels System zeitlich-historisch zu interpretieren ist, oder lediglich logisch-systematisch. Alle Vorwürfe, Hegels System sei „geschlossen“, „linear-deterministisch“, Möglichkeitsvielfalt ausschließend usw. ergeben sich aus einer historisierenden Lesart. Nur wenn Entwicklung zeitlich verstanden wird, kann die Ablehnung Hegels gegenüber Möglichkeitsvielfalten, kann die lineare bestimmte Negation oder das vorgegebene Endziel als Widerspruch zu einem Weltbild der „offenen Zukünfte“ verstanden werden.

 

Offene Zukünfte

Offene Zukünfte

 

Eine andere damit verbundene Frage ist jene nach dem Verhältnis von Denken und Sein, wobei das Bemühen um eine materialistische Weltanschauung dazu verführen kann, das Anliegen des „Idealismus“ bei Hegel außer Acht zu lassen.

 

Idealistische Logik contra materialistische Historie?

Hegels System beruht auf der Entäußerung des absoluten Geistes, der sich über verschiedene Stufen selbst erkennt und somit zu sich zurück findet.

 

Hegels System als Prozess

 

Marx konnte die idealistischen Voraussetzung Hegels nicht anerkennen, deshalb „übersetzte“ er Hegels Prozess ins Materialistische:

 

„Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß [...] der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist es umgekehrt, das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“  (Marx,1867/1988, S. 27)

Auch Lenin notierte in seine „Philosophischen Hefte“ die Aufforderung „Umkehren: Logik und Erkenntnistheorie müssen aus der „Entwicklung alles natürlichen und geistigen Lebens“ abgeleitet werden.“ (LW 38, S. 80).

Wenn Hegel seine „Entwicklung“ logisch gemeint hat, geschah mit diesen Übersetzungen und Umkehrungen ins Materialistische gleichzeitig die Historisierung der Prozesshaftigkeit des Hegelschen Systems. Das Logische wurde als Widerspiegelung des Historischen gesehen, das historische als primär gegenüber dem Logischen.

 

Vergewissern wir uns erst einmal, wie es Hegel gemeint hat. Manchmal sprach Hegel von der Entwicklung der „Sachen“ und so materiell das auch klingt, so ließ er doch keinen Zweifel daran, dass er unter „Sache“ „nichts anderes als unsere Begriffe von ihr“ (WdL I, S. 52) verstand, also den Logos, die Vernunft dessen, was ist, die Wahrheit dessen, was den Namen der Dinge führt (ebd., S. 30).

Hegel formulierte es ausdrücklich, dass er die Philosophie als “zeitloses Begreifen” auffasste, das sich nicht mit der schlechten Unendlichkeit der Abfolge endlicher Dinge beschäftigt (vgl. Hegel Enz.II, S. 26 § 248 Zusatz).

„Der Unterschied der systematisch-philosophischen Betrachtung von der empirischen besteht darin, nicht die Stufen der konkreten Existenzen der Natur als Totalitäten, sondern die Stufen der Bestimmungen darzustellen.“ (Enz. II, S. 290)

Die bei Hegel verwendeten Stufen sind also aufeinander folgende Erkenntnisschritte, Abstraktionsstufen, keine historisch aufeinander folgenden Daseinsformen (vgl. Wolff 1989, S. 408). Nur als „angeschautes Werden“ spielt die Zeit eine Rolle in der Naturphilosophie – allerdings nur für endliche Dinge, die nicht wirklich Gegenstand der Philosophie sind. (Enz. II, S. 48, §  258).

 

Wir müssen also genau genommen zwei verschiedene Formen von „Entwicklung“ unterscheiden:  Einmal die Entwicklung „der Natur nach“ (als realen zeitlichen Prozess) und zum anderen die Entwicklung „dem Begriffe nach“ (als logischen Prozess). Wie Coletti (Coletti, S. 101) analysierte, ist im ersten Fall das Denken ein vom realen Prozess abhängiges, d.h. bedingtes (das Sein bedingt das Denken). Im logischen Prozess dagegen können die seienden Bedingungen außer Kraft gesetzt werden, das Denken – speziell in Form des Begriffs – kann zum Bedingenden werden und alle Erscheinungen aus sich heraus setzen (Das Denken bedingt das Sein). Historisch verstanden ist dies natürlich der reinste Idealismus. Bleiben wir doch aber einmal beim Logischen. Erkenntnislogisch bedeutet die idealistische Außerkraftsetzung von historischen Bedingungen die Möglichkeit des – wenigstens ideellen - Überschreitens materiell noch gegebener Bedingungen. Denken ist nach Hegel tatsächlich nicht einfach das Abbilden des Vorhandenen, sondern „wesentlich die Negation eines unmittelbar Vorhandenen“ (Enz. I, S. 57, § 12).

 

Dialektik als zeitliche Entwicklung des Seins?

In der traditionellen umgestülpten Hegel-Interpretation wird die Dialektik als „Lehre von der Entwicklung der Natur, der Gesellschaft und des Denkens“ (Autorenkoll., Einführung..., S. 49) verstanden. Die Dialektik in der Natur wird dann vor allem mit einer Bezugnahme auf die Seinslogik bei Hegel illustriert. Das „Werden“ bietet sich als historisierende Kategorie besonders an. Auch die Ausführungen zu Quantität, Qualität, Maßverhältnissen und Knotenlinien legen dies nahe. Es wurden die sog. „Dialektischen Grundgesetze“ vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative, von der Einheit und den „Kampf“ der Gegensätze und der Negation der Negation  abgeleitet (Engels DdN, S. 351).

 

Es könnte nun so scheinen, als wäre wenigstens die Ebene des Seins bei Hegel als Sphäre des sich zeitlich entwickelnden materiellen Seins zu verstehen. Dann müssten die oben genannten Fragen zu Linearität, Geschlossenheit und Neuem dort behandelt worden sein. Auch der Übergang ins Wesen, das bei allem Wechsel in der Seinssphäre gleich bleibt und das der Grund für existierende Erscheinungen ist, suggeriert die Vorstellung des „zeitlichen Wechsels“ in der Seinssphäre. Wir hätten dann das sich zeitlich verändernde Daseiende innerhalb der Logik des Seins, der dann die Logiken der Wesens- und Begriffserkenntnis (erkenntnis-)logisch folgen könnten.[1]

 

Die Logik der Entwicklung der Kategorien im Hegelschen System (nach Grimsmann, Hansen)

Eine Möglichkeit, das Historische ins System zu nehmen

 

Aber auch dies entspricht keinesfalls Hegels Intentionen. Wenn bei Hegel eine Qualität negiert wird, ist dies kein zeitlicher Vorgang (vgl. Hegel Enz.I, S. 228). Auch die Beispiele von Zustandsänderungen (Aggregatzustände von Wasser, Oxydationsstufen von Metallen, Tonunterschiede) meinen nie eine zeitliche, gar entwicklungsmäßige, Aufeinanderfolge.

„Das Ineinander-Oszillieren von Sein und Nichts trägt sich nicht in der Zeit zu: Die Vergangenheitsform wird zur Chiffre des Außerzeitlichen. Mit dem Werden ist bereits („an sich“, wenn auch noch nicht explizit „gesetzt“) die Ebene des Wesens erreicht, des Seins, das sich in sich kehrt und das vergangen, aber zeitlos vergangen ist.“ (Movia, S. 20)

Aus diesem Grund kritisiert auch Wandschneider die Verwendung der Kategorie „Werden“ innerhalb der Seinslogik, weil sie als „zeitliche Bestimmung [...] im Rahmen der „Logik“ deplaziert wirkt“ (Wandschneider 1997, S. 139).

Zeitliche Entwicklung in  Natur oder Geschichte?

Hegels Philosophie entstand lange vor Darwins Arbeiten zur Evolution in der Natur. Trotzdem waren Hegel Evolutionsgedanken nicht fremd. Es ist aber anzunehmen, „daß Hegel aufgrund der Kenntnis von Darwins Arbeiten an seiner Naturphilosophie nichts Grundsätzliches verändert hätte“ (Wahsner 2002, S. 115), denn „dieser Gesichtspunkt der bloßen Aufeinanderfolge geht die philosophische Betrachtung gar nichts an“ (Enz, II, S. 348, siehe auch S. 343, 347). Hegel hat Evolution in der Natur nicht abgelehnt, aber er hat es nicht als Thema seiner Arbeit betrachtet, nicht als Gegenstand seiner Untersuchungen, nicht als Inhalt seines Systems.

„Solcher nebuloser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere [...] das Hervorgehen der entwickelteren Tierorganisationen aus niedrigeren usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen.“ (Hegel Enz.II, S. 31-32, § 249)

Auch für die Weltgeschichte anerkannte Hegel ca. 1801 noch keine Geschichte an, erst in Vorlesungen ab 1805/06 änderte er seine Meinung dazu (vgl. Kimmerle 1969). Nun verstand er die Weltgeschichte als konkreteste Wirklichkeit des Geistes (Hegel: VLPG, S. 29) bzw. als „Darstellung des Geistes [...], wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erarbeitet“ (ebd, S. 31).

„Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“ (ebd., S. 32).

 

Noch eindeutiger wird der Zusammenhang von Geschichte und Logik in der Geschichte der Philosophie. Hier gilt: „Was das Erste in der Wissenschaft ist, hat sich müssen geschichtlich als das Erste zeigen.“ (WdL I, S. 91)

„Die verschiedenen Stufen der logischen Idee finden wir in der Geschichte der Philosophie in der Gestalt nacheinander hervorgetretener philosophischer Systeme, deren jedes eine besondere Definition des Absoluten zu seiner Grundlage hat. So wie nun die Entfaltung der logischen Idee sich als ein Fortgang vom Abstrakten zum Konkreten erweist, ebenso sind dann auch in der Geschichte der Philosophie die frühesten Systeme die abstraktesten und damit zugleich die ärmsten. Das Verhältnis aber der früheren zu den späteren philosophischen Systemen ist im allgemeinen dasselbe wie das Verhältnis der früheren zu den späteren Stufen der logischen Idee, und zwar von der Art, daß die früheren die späteren als aufgehoben in sich enthalten.“ (Enz. I, S. 184)

Dabei geht es um die Geschichte des inneren Inhalts, nicht die äußerliche Geschichte “ihres Entstehens, Verbreitens, Blühens, Verkommens, Wiederauflebens, eine Geschichte ihrer Lehrer, Beförderer, auch Bekämpfer...” (Hegel VLGP, S. 15).

Hegel unterscheidet hier deutlich zwischen dem Historischen und dem Logischen. Das Historische zeigt “die unterschiedenen Stufen und Entwicklungsmomente in der Zeit, in der Weise des Geschehens, an diesen besonderen Orten, unter diesem und jenem Volke, unter diesen politischen Umständen [...] – kurz, unter dieser empirischen Form...” (Hegel VLGP,  S. 35). Das Logische dagegen stellt “die gedachte, erkannte Notwendigkeit der Bestimmungen” (ebd.) dar.

„Ich behaupte, daß wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme der Philosophie rein dessen entkleidet, was ihre äußere Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere und dergleichen betrifft: so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestimmungen der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe. Umgekehrt, den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen; aber man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält.“ (ebd.)

Schlussfolgerungen

Entwicklung versteht Hegel primär logisch. Da sich der Geist aber notwendigerweise entäußert, das Wesen notwendigerweise erscheint, haben auch die Entäußerungen bzw. Erscheinungen eine Entwicklung an sich, die sich u.U. als zeitliche Entwicklung zeigt.

Wollen wir die Hegelsche Methode als Dialektik auf die zeitliche Entwicklung anwenden, so können wir dies nur in Bezug auf die „innere Notwendigkeit“, den „inneren Inhalt“. Wir können historische Phänomene nur interpretieren im Licht einer schon mitgebrachten „Erkenntnis der Idee“ (VLGP, S. 36), bzw. des Begriffs. Erst aus dem Begriff der Sache ergibt sich, „was nicht in diesem Sinne eine Sache ist, also von seinem Begriff verschieden ist, [...] ein Unwirkliches und Nichtiges“ (WdL I, S. 44). Deshalb können aus einer Gegenwart heraus vergangene Prozesse untersucht werden, um die Aufeinanderfolge der Stufen zu bestimmen, die mit Notwendigkeit zum Erreichten geführt haben. Die jeweiligen historischen Voraussetzungen für schließlich Entstandenes können rekapituliert werden und es wird möglich, jene Bedingungen und Voraussetzungen herauszufinden, die die Existenz des Gegebenen notwendig mit sich führen, deren Beseitigung auch zum Beenden des jetzigen Zustands führen kann. Dabei ist es aber notwendig, tatsächlich im gewissen Sinne dem idealistischen Konzept zu folgen: Wir können ideell Verhältnisse vorwegnehmen, in denen die Bedingungen des Gegebenen aufgehoben sind, bevor sie es materiell sind. Das betrifft für die Zukunft erst einmal nur jene Voraussetzungen, die wesentlich für das Gegebene sind, insoweit wir anerkennen, dass die gegenwärtigen Phänomene ein inneres Wesen haben, eine Totalität im Hegelschen Sinne darstellen. Dann ist das Aufheben dieses Wesens notwendig verbunden mit der Aufhebung der gegenwärtigen Verhältnisse. Das Aufheben trägt auch eine Richtung in sich. Insofern ist die Negation des Gegebenen auch bestimmt, nicht völlig beliebig-unbestimmt („Auch das Kannsein ist gesetzlich“ (Bloch, SO, S. 172)).

Hegel sagt über die Zukunft nichts. Sein Denken bezieht sich auf die Analyse des jeweils Gewordenen.

„Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Hegel GLPR, S. 28)

Hegels System kann, wenn man nicht die Interpretation der Entäußerung und Selbsterkenntnis des absoluten Geistes mittragen will, weitgehend auch für materialistisches Denken verwendet werden. Dann sind aber zusätzliche Versicherungen notwendig, beispielsweise, dass es unter der Oberfläche der Phänomene ein inneres Wesen gibt, ein „Prinzip“, das die Phänomene mit Notwendigkeit bestimmt und dass das Erkennen dieser inneren Notwendigkeit folgen kann. Die Erkenntnis dieses Wesens kann streng nur für Vergangenes und Gegebenes auf Hegelsche („dialektische“) Weise erfolgen. Die Zukunft spielt nur insofern eine Rolle, als in der Gegenwart die Bedingungen zu ihrer Erzeugung geschaffen werden. Daraus kann einerseits erkannt werden, welche Art Erscheinungen zu erwarten sind, wenn die wesentlichen Verhältnisse sich nicht verändern. Andererseits kann ideell vorgreifendes Erkennen natürlich Schlüsse über mögliche andere Ziele (auf Grundlage anderer wesentlicher Verhältnisse) und anzuwendende Methoden ziehen.

 

Das Historische und das Logische in der Kritik der Politischen Ökonomie

Wie Karl Reitter beschreibt, widerstritten seit langem historische und logische Lesarten des „Kapital“ bei Marx. Die historische ist wohl die am weitesten Verbreitete und kann sich auf verschiedene Sätze von Friedrich Engels berufen:

„Wir gehen bei dieser Methode aus von dem ersten und einfachsten Verhältnis, das uns historisch, faktisch vorliegt, her also von dem ersten ökonomischen Verhältnis, das wir vorfinden. Dies Verhältnis zergliedern wir.“ (Engels 1859/1961, S. 475).

Zwar geht Engels von einer logischen Behandlungsweise aus, diese ist aber für ihn „in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten. Womit diese Geschichte anfängt, damit muß der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs...." (Engels 1859/1961, S. 475).

Daraus ergibt sich für das Thema des „Kapital“, dass zu Beginn der menschlichen Geschichte tatsächlich zuerst Güter ohne allgemeines Äquivalent getauscht wurden, also Fell gegen Leder und Leder gegen Pfeile etc. , was dann in eine Ökonomie der einfachen Warenproduktion gemündet hat. In seiner Ergänzung zum dritten Band des Kapital erläuterte Engels ausführlich seine historische Vorstellung der Entwicklung der Warenproduktion und des Geldes (Engels 1895/1989, S. 908f.).[2]

Allerdings ergibt sich bei dieser Betrachtungsweise schon das Problem, wie geschichtliche Phänomene zu interpretieren sind. Ihre Funktionsweise innerhalb der Verhältnisse, ihre Ursache- und Wirkungsgeschichten sind ihnen nicht direkt anzusehen. Letztlich bedarf ihre Interpretation immer einer Vorgabe.

„Die historischen Fakten sind meist stumm, wenn sie nicht mit Hilfe eines „logisch“ gewonnenen [...] Begriffsapparates gedeutet werden.“ (Backhaus 1997, S. 187).

Wenn Engels vom Historischen die Form und die störenden Zufälligkeiten abziehen will, woher weiß er, was Form und was Zufälligkeit ist? Es ist inzwischen gut bekannt, dass es eine Epoche der „einfachen Warenproduktion“ nicht wirklich gab. Auch war beispielsweise das „Handelskapital“ keine Vorform („Keimform“) des späteren kapitalistischen Kapitals (vgl. Reitter).

 

Marx unterschied jene Voraussetzungen und Bedingungen, die der kapitalistischen Produktionsweise historisch vorausgesetzt waren (die „naturwüchsigen“) von jenen, die die kapitalistische Produktionsweise in ihrer eigenen Reproduktion selbst immer wieder neu erzeugt (die „geschichtlichen“).

„Durch den Prozeß der Produktion selbst werden sie [die Voraussetzungen und Bedingungen der Produktion] aus naturwüchsigen in geschichtliche verwandelt, und wenn sie für eine Periode als natürliche Voraussetzung der Produktion erscheinen, waren sie für eine andre ihr geschichtliches Resultat.“ (Marx 1857/1983, S.32)

Im „Kapital“ untersuchte er, wie Backhaus zeigte, die logischen Zusammenhänge des existierenden Kapitals. Die real-historische Entstehung thematisiert er nur dann, wenn er nachweist, in welcher Weise die jeweiligen „naturwüchsigen“ Bedingungen zur Entstehung der herrschenden Verhältnisse vorhanden gewesen sind. Ansonsten ist das „Kapital“ keine Nacherzählung von geschichtlichen Prozessen. Daraus ergibt sich auch, dass die Kategorien „Waren“, „Warenproduktion“, „Doppelcharakter“ etc. sich inhaltlich auf den voll entwickelten Kapitalismus beziehen und darüber hinausgehend keine Geltung haben.[3]

„Die Analyse geht vom Endprodukt aus und fragt nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die so etwas Seltsames wie Warenproduktion überhaupt ermöglicht.“ (Reitter)

Damit können wir dann wieder der Hegelschen Methode folgen. Im Endprodukt zeigt sich die entfaltete Totalität, von ihr aus lässt sich ausmachen, wie die Erscheinungen aus dem Wesen notwendigerweise folgen. Mit diesem Blick lässt sich dann vom Abstrakten (Vereinzelten oder abstrakt Verallgemeinerten) „zum Konkreten aufsteigen“ (Marx 1858/1983, S. 35), also die Erscheinungen als Erscheinungen des erkannten Wesens aufzeigen. Dieses Aufzeigen ist dann allerdings keine reale Evolution.

„Hegel geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keinesfalls aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst.“ (Marx 1858/1983, S. 35)

Die Möglichkeit der Kritik des Konkreten ergibt sich  aus der Kenntnis seiner Wesenszüge.

Solange wir uns an die historische Interpretation halten, geht es um die zeitliche Aufeinanderfolge von Wirkungen früherer Ursachen, die selbst wieder zu Ursachen werden usw., usf. Es besteht keine Unterscheidung zwischen Erscheinungen und tieferen Wesenszügen. Im anderen Fall geht es um die logische Bedingtheit der Erscheinungen als notwendige Erscheinungen eines Wesens. Begründungen und Erklärungen folgen nicht aus (kontingenten) kausalen Verursachungen, sondern aus dem zu erkennenden Wesen, bzw. der bestimmenden Totalität (bei Hegel: dem „Begriff“). Letztlich entsprach letzteres der Intention und auch der Methode von Marx. Arbeitslosigkeit ist nicht nur kontingente[4] Wirkung beliebiger Entscheidungen, sondern notwendige Folge des Produktions- und Gesellschaftsprinzips „Kapitalismus“.

Wenn Marx im Vorwort zur ersten Auflage des “Kapital” allerdings ausdrücklich von den “Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion” (Marx 1967/1788, S. 12) schreibt, so meint er damit die notwendigen Erscheinungen des Wesens des Kapitalismus. Solange dieses Wesen nicht aufgehoben ist, folgen aus ihm bestimmte Erscheinungen gesetzmäßig und auch „hinter dem Rücken“ der Menschen. Für die Weltgeschichte weigerte sich Marx, einen “Universalschlüssel der Geschichte” anzunehmen und auf eine konkrete Nachfrage von Vera Sassulitsch betonte er auch, dass sie keineswegs aus ihrem Wissen um die innere Logik des geschichtlichen Geschehens ableiten könnten, was in Russland geschehen würde. (Marx 1881/1962, S. 384ff.)

 

 

Literatur

Autorenkollektiv: Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus. Berlin: Dietz-Verlag. 1977.

Backhaus, Hans-Georg (1997): Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik. Freiburg i.Br.: Ca ira Verlag.

Bloch, Ernst (SO): Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1985.

Colletti, Lucio (1977): Marxismus und Dialektik. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein

Engels, Friedrich (DdN): Dialektik der Natur. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke Band 20, Berlin: Dietz-Verlag 1962.

Engels, Friedrich (1859/1961): Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Rezension) In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 13. Berlin: Dietz Verlag (1961).

Grimsmann, Martin; Hansen, Lutz: Hegel-Plakat, siehe http://www.hegel-system.de.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Diff): Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie Werke. In: G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (WdL I): Wissenschaft der Logik I. Auf d. Grdl. der Werke von 1832-1845 neu ed. Ausg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag (entspricht G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Band 5 Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970).

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (GLPR): Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Band 7. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Enz.I): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil.  Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag (entspricht G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Band 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970).

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Enz.II): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zweiter Teil.  Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag (entspricht G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Band 9 Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970).

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (VLPG): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden. Band 12. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (VLGP). Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Erster Band. Nach der Ausgabe von Michelet (1833) überarb. und hrsg. v. G. Irrlitz und K. Gurst. Leipzig: Verlag Philipp Reclam 1982.

Kimmerle, Heinz (1969): Zum Verhältnis von Geschichte und Philosophie im Denken Hegels. Vortrag auf dem VII. Internationalen Kongreß der Hegel-Gesellschaft e.V. in Paris. In: Hegel-Studien, Beiheft 8. S. 301-312.

Lenin Wladimir I. (LW): Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik“. In: W.I. Lenin. Werke: Band 38: Philosophische Hefte. Berlin: Dietz-Verlag. 1973.

Marx, Karl (1857/1983): Einleitung zu den "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie". In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 42. Berlin: Dietz Verlag 1983 (entspricht: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 13. Berlin: Dietz Verlag 1961).

Marx, Karl (1858/1983): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 42. Berlin: Dietz Verlag 1983.

Marx, Karl (ÖM): Ökonomische Manuskripte 1863-1867. Text Teil 1. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Band II.4. Berlin: Dietz-Verlag. 1988.

Marx, Karl (1867/1988): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 23. Berlin: Dietz Verlag 1988.

Marx, Karl (1881/1962): Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V.I. Sassulitsch. In: Karl Marx Friedrich Engels Werke. Band 19. Berlin: Dietz-Verlag 1962.

Marx, Karl (1894/1989): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band (hrsg.v. F. Engels) In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 25. Berlin: Dietz Verlag 1989.

Movia, Giancarlo (2002): Über den Anfang der Hegelschen Logik. In: Wissenschaft der Logik. Hrsg.v. A.F.Koch und F. Schick. Berlin: Akademie-Verlag. S. 11-26.

Reitter, Karl: Logisch oder historisch? Einführende Bemerkungen zu einer Kontroverse zwischen Michael Heinrich, Hans Georg Backhaus und Wolfgang Fritz Haug. http://www.trend.infopartisan.net/trd0104/t200104.html (abgerufen 24.02.2009).

Steinmüller, Karlheinz (1997): Workshop über "Partizipative Zukunftsforschung" der Stiftung Mitarbeit im Tagungshaus der Kommune Niederkaufungen.

Wahsner, Renate (2002): Mechanismus und Organismus als Thema von Hegels Phänomenologie  und Philosophie der Natur. In: Die Natur muß beweisen werden. Zu Grundfragen der Hegelschen Naturphilosophie. Hrsg. von Renate Wahsner und Thomas Posch. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Peter Lang, 2002. S. 101-124.

Wandschneider, Dieter (1997) Zur Struktur dialektischer Begriffsentwicklung. In: Wandschneider, Dieter: Das Problem der Dialektik. Bonn: Bouvier Verlag. S. 114-169.

Wolff, Michael (1989): Realitätsstufen oder Entwicklung? Hegels „Realphilosophie“ und die Philosophie der Wissenschaften. Hegel-Jahrbuch 1989. S. 397-413.

 



[1] Mir fiel das in einem Telefonat mit einem Marxisten auf, der mitteilte, dass er von Hegel lediglich die Seinslogik ernst nehmen könne, danach käme der ganze Idealismus bei Hegel durch.

[2] An anderen Stellen vertrat Engels durchaus eher das Konzept der logischen Entwicklung (vgl. MEW 20, S. 475, 183).

[3] Marx verwendet in seinen Ökonomischen Manuskripten zwar jeweils das Wort „Waare“ für die historische Entwicklung des Kapitals wie auch für die Waren im Kapitalismus, unterscheidet jedoch textlich eindeutig jene historisch vorgängige Warenproduktion (als „historische Voraussetzung der capitalistichen Productionsweise“) von der kapitalistischen, bei der die Ware zur „allgemeinen Form des Products“ wird, was dazu führt, dass „die Entäusserung des Prducts als nothwendige Form seiner Aneignung“ wird und „alle Producenten daher nothwendig Waarenproducenten sind“  (vgl. Marx, ÖM, S. 24-28).

[4] d.h.: „Es könnte auch anders sein“, wenn z.B. der Ebene oberflächlicher Reformen irgend welche anderen Entscheidungen getroffen würden.


 
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