Hegels Konzept der Sittlichkeit

Mit dem Begriff der „Sittlichkeit“ kommt Wikipedia gar nicht zurecht. Schon als Wort klingt es ziemlich altväterlich und es wird für einen modernen Sprachgebrauch auch kaum noch zu retten sein. Aber gerade deshalb wäre es schade, wenn das, was inhaltlich damit auch gemeint sein kann, im Dunkel der Kulturgeschichte verschwindet und man z.B. die entsprechenden Kapitel bei Hegel mit einem fehlgeleiteten Vorverständnis missversteht.

 
Deshalb hier eine etwas waghalsige Reinterpretation dessen, was ich an Hegels Sittlichkeitsbegriff für heutige Probleme interessant und spannend finde.

Letztlich geht es bei der „Sittlichkeit“ wohl immer um die Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung, nach der Frage des Zusammenhangs zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem. In der Renaissance hatte sich erstmals ein Menschenbild entwickelt, bei dem individuelle Autonomie vorausgesetzt wird. Damit entsteht überhaupt erst die Fragestellung, wie und warum sich diese Individuen in einer gesellschaftlichen Ordnung zusammenfinden.
  Der Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679), für den die Erfahrung von Gewalt in politischen Auseinandersetzungen prägend war, bezeichnete den Menschen als „Wolf für den Menschen“, wenn man sie in ihrem staatlichen Wirken betrachtet (Hobbes GF: 63). Da ich mich mit Hobbes selbst nie ausführlich beschäftigt habe, ist mir sein Menschenbild nicht klar. Das berühmte Wolfszitat steht nämlich nicht allein. Es heißt vollständig:
„Nun sind sicher beide Sätze war: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht. Dort nähert man sich durch Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens der Ähnlichkeit mit Gott; hier müssen selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d.h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen.“ (Hobbes GF: 63-64)

Als „Bürger“ ist der Mensch (1) für den anderen Menschen Gott. Das staatliche Agieren dagegen ist wolfsartig (2). In seinem Werk „Leviathan“ geht Hobbes davon aus, dass Menschen im vorstaatlichen Naturzustand (3) im Krieg „aller gegen alle“ stehen würden und es deshalb für sie vernünftig ist, einen gegenseitigen Vertrag zu schließen, in dem sie sich einem Souverän, dem „Leviathan“, unterwerfen. Dieser garantiert dann Schutz und Sicherheit. Die Menschen in diesem Staatsgebilde sind dann freiwillig durch Vertrag unterworfene Menschen (4). Ich persönlich bekomme diese 4 Menschen“typen“ nicht ganz zusammen, dies könnten Hobbesspezialist_innen klären.

Die Beziehung der Menschen untereinander ist jedoch grundsätzlich negativ gegeneinander bestimmt. Das zeigt sich auch an dem Freiheitsbegriff von Hobbes:

„Nach meiner Ansicht ist die Freiheit nichts anderes als die Abwesenheit von allem, was die Bewegung hindert.“ (Hobbes GF: 175)

Die Freiheit reicht so weit, „als kein Schaden daraus entsteht“ (ebd: 215).

Während sich bei Hobbes die vertragsschließende Vernunft letztlich doch aus natürlichen und angeborenen Beweggründen ergibt, koppelt Immanuel Kant (1724 - 1804) die Entscheidungen darüber, was getan werden soll, von der Natur ab. Lediglich eine Vernunft, die an keine gegebenen Inhalte (wie Natur) mehr gebunden ist, sondern rein formell durch ihre Widerspruchsfreiheit gekennzeichnet wird, soll maßgebend sein.

Sittlich sind für Kant Handlungen, die der praktischen Vernunft, die für alle Menschen gleichermaßen gilt, folgen. Als wichtigster dem entsprechender Grundsatz wurde der Kategorische Imperativ bekannt:

„ [...] handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (GMdS: 51)
„Kategorisch“ ist der Imperativ, weil er sich auf eine Handlung bezieht, die „ sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objektiv-notwendig“ vorgestellt wird (ebd.: 43). Als Imperativ ist dieser Satz objektiv und den Willen nötigend (ebd.: 41). Vorausgesetzt ist aber ein Wille, „der nicht immer darum etwas tut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu tun gut sei.“ (ebd.: 42) – deshalb bedingen sich bei Kant der Kategorische Imperativ und die Freiheit gegenseitig. (eine nette Verdeutlichung in einem Film von BR-Alpha)

Diese philosophischen Gesellschafts- und Freiheitsvorstellungen fanden Eingang in die französische „Konstitution“ von 1793. Hier heißt es im 6. Artikel:

„Die Freiheit ist die Macht, die dem Menschen erlaubt, das zu tun, was den Rechten eines anderen nicht schadet; sie hat als Grundlage die Natur, als Maßstab die Gerechtigkeit, als Schutzwehr das Gesetz. Ihre moralische Begrenzung liegt in dem Grundsatz: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“.
Auch bei Kant geht es also um die Frage, wie die individuellen Willen „zusammenstimmen“. Rudolf Eisler schätzt dazu ein:
„Sittliches Wollen ist Wollen in der Richtung idealer Einheit des Wollens der Menschen. Die ideale Gesetzgebung, als deren Prinzip sich unsere Willensmaxime muß dartun lassen können, ist eine solche, bei welcher auch der Wille der Mitmenschen berücksichtigt ist, so daß nicht bloß wir selbst, sondern auch die anderen als frei wollende, vernünftige, gesetzgebende Wesen, d. h. Persönlichkeiten zur Geltung kommen.“ (Eisler 1930)
Hegel kritisiert diese Konzeption von Kant. Nach Kant vereinigt sich im Recht nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit die „Willkür des einen mit der Willkür des anderen“ (MdS: 43). Auch bei Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) findet Hegel in dessen Gesellschaftsvertrag lediglich einen allgemeinen Willen, der „nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinschaftliche“ (HW 7: 400, § 258) gelten kann. Rousseau selbst unterschied zwischen dem „Volonté générale“ (frz. allgemeiner Wille),der das Allgemeinwohl repräsentiert, und dem „Volonté de tous“, also der Summe der Einzelwillen. [1] Bernhard Taurek bezieht den allgemeinen Willen auf eine "anthropologische Interesseneinheit der Menschen [...], die auf Dauer von ihren bisherigen politischen Deformationen zu befreien ist“ (Taurek 2009: 108).

Das Gesellschaftlich-Allgemeine als Sittlichkeit bei Hegel

Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770 – 1831) wendet sich gegen die Abstraktheit, die er im Allgemeinen/Gemeinsamen bei Rousseau bzw. Kant sieht. In der lediglich abstrakten Zusammenführung der einzelnen unbestimmt-willkürlichen Willensäußerungen sieht Hegel auch die Ursache für die gewalttätigen Folge der Französischen Revolution. Er setzt dieser Verbindung von Einzelheit und Allgemeinheit sein spezielles Konzept von konkreter Allgemeinheit entgegen. Der allgemeine Wille ist, wie seiner Kritik an Rousseau zu entnehmen ist, „an und für sich vernünftig“.

Zwar sind die Individuen autonom – aber ihr Wesen besteht in der Vernünftigkeit. Diese Vernunft nun wiederum ist nichts dem Einzelnen Zukommendes, sondern entstammt der „kosmischen Vernunft“ (Taylor 1998: 489), dem „Geist“ (G. Lukács schlägt vor, den Geist mit der menschlichen Gattung zu identifizieren Lukács 1986: 537, Fn 1, vgl. auch Wagenknecht 1997 [2]).

Dabei ist vorausgesetzt, dass sich die menschliche Freiheit aus der Weltordnung speist, und dass dem Einzelnen diese Weltordnung nicht als Fremdes, Beherrschendes gegenüber steht (letztlich entsteht das Einzelne ja durch die Entäußerung der umfassenden Ordnung). Durch die Verankerung in der Weltordnung gewinnt das sittliche Handeln bei aller Freiheit eine konkrete inhaltliche Orientierung (in Richtung der Aufrechterhaltung und Entwicklung dieser Ordnung) und bleibt nicht leer und abstrakt wie bei Kant.

Bei Hegel ist deshalb Sittlichkeit bestimmt als „Reihe von Pflichten, die wir haben, und die besagt, daß eine auf der Idee gegründete Gesellschaft gefördert und erhalten werden muß“ (Taylor 1998: 492). Man kann dies auch als Ausdruck von Konservatismus lesen, wenn man die Förderung und Erhaltung auf die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit bezieht. Dies kann bei Hegel jedoch nicht so gemeint sein, weil alle Abhandlungen über die Staatlichkeit, in welchen die Realisierungsformen dieses allgemeinen Zusammenhangs zwischen Individuen und Gesellschaft diskutiert werden, ihre Wahrheit (d.h. ihre übergreifende Einordnung und Begründung) in der Weltgeschichte finden (siehe HW 10: 347, § 548), also im „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (HW 12: 32). Dabei wird vorausgesetzt, „daß überhaupt Vernunft in der Geschichte sei“ (HW 10: 348).

Unter einem „Staat“, dem umfassendsten Moment des sittlichen gesellschaftlichen Lebens, muss man sich dabei nicht die empirischen Staatsgebilde vorstellen. Insbesondere erfüllen Gemeinwesen, in denen die Einzelnen nur in eine „äußere Beziehung“ ( PR: 177, § 183) treten, nicht das, was Hegel in seiner Gesellschaftstheorie als „Staat“ bezeichnet. Dies wäre nur ein „Not- und Verstandesstaat“ (HW 7: 340, § 183).

Letztlich gibt es viele Gemeinschaften von Menschen – der Staat ist dadurch ausgezeichnet, dass er als Ganzes alle Momente des menschlichen Lebens beinhaltet (familiäres, ökonomisches, politische Institutionen) und sich in seiner Entwicklung auf sich selbst bezieht (ebd.: 330, § 536). Der Staat ist dabei die höchste Weise der Vermittlung von Individualität und Gesellschaftlichkeit, und begründet, beinhaltet und umfasst die familiären und die ökonomischen Beziehungen der Menschen.

Dabei bildet das Gemeinschaftliche gerade keine Beschränkung des Individuellen:

„Doch ist dies nicht so zu nehmen, als ob der subjektive Wille des Einzelnen zu seiner Ausführung und seinem Genusse durch den allgemeinen Willen käme und dieser ein Mittel für ihn wäre, als ob das Subjekt neben den andern Subjekten seine Freiheit so beschränkte, daß diese gemeinsame Beschränkung, das Genieren aller gegeneinander, jedem einen kleinen Platz ließe, worin er sich ergehen könne; vielmehr sind Recht, Sittlichkeit, Staat, und nur sie, die positive Wirklichkeit und Befriedigung der Freiheit. Die Freiheit, welche beschränkt wird, ist die Willkür, die sich auf das Besondere der Bedürfnisse bezieht.“ (HW 12: 55-56)
Die Vernunft ist nicht zu irgend einer Zeit in irgend einem staatlichen Zustand (z.B. jener der Zeit Hegels) fertig verwirklicht und die Aussage „Das Vernünftige ist wirklich, und das Wirkliche ist vernünftig“ (PR: 37) ist keinesfalls eine Rechtfertigung des Gegebenen, sondern: „Man muß das Unausgebildete und das Überreife nur nicht wirklich nennen“ (ebd.). Im philosophischen Erkennen geht es Hegel lediglich um die Idee, nicht ihre äußeren Erscheinungen. In der weltlichen Gegenwart sieht Hegel einerseits das „Kreuz“, andererseits auch die „Rose im Kreuz, das Vernünftige, auch“ (ebd.: 40, § 3). Als abgeschlossen betrachtet Hegel die Geschichte auch nach der französischen Revolution nicht: „Die große Revolution ist geschehen, das weitere ist der Zeit zu überlassen [...]“ (ebd.: 235, § 258). Als leitendes Prinzip gilt: „Das Vernünftige soll gelten.“ (ebd.: 234).

Für Hegel ist jedoch nicht die Differenz des Gegeben zu einem, das sein soll, ausschlaggebend. Er sieht den übergreifenden geschichtlichen Zusammenhang zwischen dem, was für andere sein soll und dem, was an dem Sollen auch für das Jetzige nicht fremd ist. Sein Horizont ist weiter aufgespannt: Der übergreifende historische („göttliche“= philosophische) Blick schaut immer die umfassende Geschichte, die schon immer vorhandene Rose. In diesem Horizont wird nicht die Differenz zwischen dem Vorhandenem und dem Gesollten betont (das wäre der „moralische“ Standpunkt), sondern es wird davon ausgegangen, dass das Vernünftige schon immer da ist. Sittliches Handeln ist auf die (weitere) Verwirklichung dieses allgemeinen Vernünftigen gerichtet.
Wenn dies so ist, dann wäre das Lebensmotto des Buchhelden Pawel Kortschagin (der in Moskau neu derzeit entdeckt wird) wahrhaftig sittlich im Hegelschen Sinne:
„Das Kostbarste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und leben soll er so, dass nicht sinnlos vertane Jahre ihn schmerzen, dass nicht die Scham um eine schäbige und kleinliche Vergangenheit ihn brennt und dass er im Sterben sagen kann: Mein ganzes Leben und all meine Kräfte habe ich hingegeben für das Schönste der Welt - den Kampf um die Befreiung der Menschheit.“ (Wie der Stahl gehärtet wurde)
Es liegt nahe, dass die Position Hegels, bei der die Handlung und das Werk Einzelner lediglich Werkzeuge in dieser Weltgeschichte sind (HW 10: 353, § 551), durchaus verwandt ist mit der Lesart des Mottos von Kortschagin als völlige Vereinnahmung des Menschen. Es ist aber durchaus zu unterscheiden zwischen einer „Vereinnahmung“ im Sinne der Bedeutungslosigkeit der Individualität und der Anerkennung der Tatsache, dass die menschlichen Individuen, Staaten und Völker notwendige und in ihrer jeweiligen Individualität aber „vergehende“ Entitäten sind, während die gesamte weltgeschichtliche Bewegung das Übergreifende, Bleibende darstellt.

Charles Taylor erinnert in seiner Hegel-Interpretation daran, dass für Hegel die griechische Polis zum letzten Mal eine harmonische „Sittlichkeit“ verkörpert habe (Taylor 1998: 495) und von ihr hat er auch die Vorstellung einer möglichen Vereinigung des Prinzips der Autonomie mit dem Prinzip einer Gemeinschaft „deren öffentliches Leben Ausdruck ihrer Mitglieder war“ (ebd.: 477). Wie es Individuen ergeht, die in einer Gesellschaft leben, die nicht der sittlichen Idee entspricht, bespricht Hegel am Beispiel von Jesus und Sokrates, die scheitern müssen.

„Unabhängig von der Größe geistiger Wahrheiten, die ein Mensch entdeckt, können sie doch nicht verwirklicht, das heißt verkörpert werden, wenn er allein handelt, als ein Individuum ist er von seiner Gesellschaft in vieler Weise abhängig, und wenn sie verderbt ist, kann er das Gute nicht verwirklichen. Wenn er seine Wahrheit nicht aufs Spiel setzen und seine Botschaft nicht verfälschen will, muß er sich entweder zurückziehen und/oder seine Gesellschaft herausfordern, und damit erleidet er ein Schicksal wie Christus oder Sokrates“ (ebd.: 494)
Die Objektivität des Allgemeinen ist also dadurch gegeben, „daß die Individuen nur durch ihr Eingebundensein in die Gemeinschaft sind, was sie sind“ (ebd.).
„Der Mensch wird zum Allgemeinen erhoben, weil er bereits aus einer Vereinzelung herausgetreten ist und in einer Gemeinschaft lebt, deren umfassenderes Leben sein eigenes in sich schließt.“ (ebd.: 479)
Das einzelne Individuum erweist sich als ein von vornherein allgemeines, was es nur noch erkennen muss, um dementsprechend zu handeln. Die oben schon erwähnte Formulierung, dass die Einzelnen lediglich Werkzeuge in dieser Weltgeschichte seien (HW 10: 353: § 551), wird an anderer Stelle relativiert: Wenn etwas als Mittel zu einem Zweck wirkt, dann muss es so beschaffen sein, dass es diesem Ziel auch entspricht – es muss etwas mit ihm gemein haben. Wenn es um die Vernunft als Zweck geht, so können menschliche Individuen nicht nur einfach austauschbare Werkzeuge sein - sondern sie müssen Teil haben am Vernunftzweck selbst und dadurch Selbstzweck sein (HW 12: 50). Auch die Individuen, die sich aufopfern und preisgeben, hatten eben für sich den Zweck, in der Geschichte diese Rolle zu spielen.
„Indes ist dies Verhältnis von Zweck und Mittel überhaupt hier nicht passend. Denn der Staat ist nicht das Abstrakte, das den Bürgern gegenübersteht; sondern sie sind Momente wie im organischen Leben, wo kein Glied Zweck, keines Mittel ist.“ (VG: 112)
Für diese organizistische Vorstellung gibt es auch ein altes Gleichnis: Als nach der Gründung der römischen Republik die niederen Stände Roms sich unterdrückt fühlten, wollten sie aus Rom ausziehen. Aus der Stadt wurde nach einiger Zeit Agrippa Mennenius zu ihrem Lager geschickt und er überredete sie mit einem Gleichnis zur Rückkehr: Er verglich den Auszug mit dem Entschluss der Glieder des Leibes, die Zusammenarbeit mit den anderen Organen aufzukündigen. Denn sie warfen dem Magen vor, er „liege ruhig in der Mitte und tue nichts anderes, als sich mit den herangebrachten Dingen zu sättigen“. Sie versorgten den Magen also nicht mehr. Dann allerdings mussten sie die Erfahrung machen, dass sie schwach und kraftlos wurden. „Da sahen sie ein, dass auch die Aufgabe des Magens nicht die Faulheit war. Ebenso, wie er ernährt wurde, stärkte er auch wieder.“

Taylor betont, dass das konkret-Allgemeine bei Hegel nichts ist ohne das Individuelle, das Allgemeine kann „nur Wirklichkeit in den Leben und Handlungen einzelner Individuen finden“ (Taylor 1998: 226) und er interpretiert die „individuelle Selbstverwirklichung als den Ausdruck des Allgemeinen“ (ebd.). Individuen entwickeln eigenen Verstand und eigene Absichten nur aufgrund der Anregungen, die das Zusammenleben mit den anderen ihnen gibt: „Gerade das Streben nach individueller Freiheit wird von diesem Austausch genährt“ (ebd.: 115). Jedes Individuum braucht die anderen, um sich nicht nur als isoliert-leere Entität zu erfahren, sondern durch die anderen, durch die Beziehungen zu ihnen bereichert und erfüllt zu werden und sich daraus zu entfalten. Das Individuum findet und stärkt sich durch die Beziehung zu den anderen.

„Freiheit erfordert offenbar individuelle Freiheit einerseits und Integration in ein umfassenderes Leben andererseits.“ (ebd.: 116)
Bezüglich der historischen Entwicklung könnte man die Betonung der Identität zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem, zwischen Einzelnem und Allgemeinem so lesen, dass Hegel das Gegebene konservieren wollte. Die Betonung der jeweils gegebenen Übereinstimmung des Individuellen mit dem Gesellschaftlichen könnte affirmativ und konservativ wirken. Hegel betont jedoch mehrfach, dass die empirischen politischen Staatsgebilde durchaus nicht dem „idealen Staat“, der Idee des Staates, des vernünftigen Staates entsprechen. Aber er betont, dass das, was einen Staat, was die Sittlichkeit grundsätzlich ausmacht, nämlich die Identität von Individuellem und Gesellschaftlichem, in allen politischen Gebilden, denen er die Ehre gibt, „Staat“ genannt zu werden, jedenfalls in Ansätzen verwirklicht ist.

Denn niemals sind die Individuen völlig getrennt von der Gesellschaft in der sie leben, sie sind nicht einfach da, sondern sie werden von der gegebenen Gesellschaft konstituiert. Damit nimmt Hegel eigentlich schon die Erkenntnis über die soziale und kulturelle Produktion der Subjektivität vorweg, denn er kritisiert damit die Vorstellung eines einfach so ohne Voraussetzung gegebenen autonomen Subjekts. Gleichzeitig gibt der Anspruch der Vernünftigkeit einen Maßstab zur Kritik jeglicher empirischer Gesellschaftsformen bzw. Staatsstrukturen.

Nach Hegel besteht Sittlichkeit dann, wenn „die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden ist“ (Enz. III § 513: 318). Das heißt also, der Mensch soll das wollen, was er soll. Damit ist aber keine Unterordnung unter fremde Mächte, die vorgeben, was der Mensch "soll" gemeint, sondern es wird vorausgesetzt, dass die Welt selbst (zumindest potentiell und teilweise) vernünftig organisiert ist.

Die Entwicklung des Konzepts des Gesellschaftlich-Allgemeinem bei Marx

Karl Marx kritisiert die Hegelsche Gesellschaftstheorie ausdrücklich (MEW 1/KHS, MEW 1/KHR). Der Inhalt der Kritik ist vor allem die logische Struktur der Hegelschen Argumentation, bei der nach Marx aus der abstrakten Logik heraus der konkrete Gegenstand entwickelt wird. Dies versteht er als Mystifikation.
„Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik.“ (MEW 1/KHS: 216)
Sahra Wagenknecht zeigt, wie sich diese Kritik aus dem Feuerbachschen Denken speist (Wagenknecht 1997: 136 ff.) und sich letztlich oft nicht an Hegels Texten selbst abarbeitet, sondern an Positionen, die die Junghegelianer in vereinseitigender Weise bezogen (ebd.: 179).
„Die Marxsche Kritik, bezieht man sie auf die Hegelsche „Phänomenologie“ als solche, erscheint schlicht als verfehlt. Sie wird jedoch sofort verständlich und in ihrer Vehemenz nachvollziehbar, sieht man sie im Kontext der junghegelianischen „Phänomenologie“-Rezeption und speziell der Bauerschen „Philosophie des Selbstbewußtseins“.“ (ebd.: 180)
Sahra Wagenknecht zeigt auch, dass bei Hegel zwei Begründungslinien parallel laufen: Einerseits begründet er die Bewegungsformen der bürgerlichen Gesellschaft durchaus in materialistischem Sinne aus der Teilung der Arbeit usw.; andererseits soll sich die jeweilige Struktur auch als Verwirklichung der ewigen/absoluten Substantialität erweisen. Auf die zweite Linie hat es Marx abgesehen, weil sie nutzbar ist für konservative und apologetische Ideologien und Marx ausdrücklich nicht die Funktionalität der herrschenden Ordnung in ihrer (wenn auch beschränkten) Vernünftigkeit anerkennen will, sondern auf ihre Abschaffung abzielt.

Marx stützt sich zum damaligen Zeitpunkt (1843) selbst noch auf eine wahre Idee des politischen Staates (MEW 1/DFJ: 345), die er in der Demokratie sieht (MEW 1/KHS: 231). Marx ist an dieser Stelle durchaus auch Hegelianer: „Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form“ (EW 1/DFJ: 345) – nur deshalb kann sich auch „zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen“ (ebd.). In diese Phase des marxschen Denkens gehört auch die Schrift „Zur Judenfrage“ (MEW 1/JF), in der sich Marx ausführlich mit dem Verhältnis von Individualität und Gesellschaftlichkeit in einem allgemeinen anthropologischen Sinn beschäftigt.

Er weist hier die individualistischen Autonomie- und Freiheitsvorstellungen, die sich in der französischen „Konstitution“ von 1793 finden lassen, zurück:

„Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet. ...Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückbezogener Monade.“ (MEW 1/JF: 364)
Marx formuliert an verschiedenen Stellen auch die von ihm vertretene Negation dieser Vorstellung. Während das Menschenrecht der Freiheit „auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen“ basiert, sollte es „auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen“ (ebd.) basieren. Und während die bürgerliche Gesellschaft jeden Menschen im anderen Menschen die Schranke seiner Freiheit finden läßt, sollte jeder Mensch im anderen Menschen die Verwirklichung finden (ebd.: 365)

Da sind wir wieder ganz bei Hegel. Bei diesem ist Freiheit als ein Fürsichsein bestimmt, worin „das Subjekt in dem, was demselben gegenübersteht, nichts Fremdes, keine Grenze und Schranke hat, sondern sich selber darin findet.“ (HW 13: 134) Der Maßstab der Kritik, das Allgemeine, wird hier auch ganz abstrakt formuliert: es geht um das „Gattungswesen“:

„Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine „forces Propres“ (eigenen Kräfte) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftlichen Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (ebd.: 370)
In den späteren Schriften untersucht Marx die ökonomischen Verhältnisse genauer und erkennt schließlich, dass zur Aufhebung der Entfremdung und zur Emanzipation die Aufhebung des Privateigentums notwendig ist. Das Allgemeine wird schließlich nicht mehr im überhistorisch abstrakten Gattungswesen gesehen, sondern in der je konkret historischen Gesellschaftsform. Bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Individuum und der jeweiligen Gesellschaftsform kann nicht einseitig nur vom (subjektiv bestimmten) Verhalten des Individuums ausgegangen werden – sondern das Wechselverhältnis zu den (objektiv bestimmten) jeweiligen Bedingungen muss untersucht werden.

Dies wird in den Entfremdungs-Texten von Marx (MEW 40/ÖPM) noch nicht herausgearbeitet. Hier wird das Privateigentum als Produkt der entäußerten Arbeit gesehen (ebd.: 520) und nicht als deren Bedingung. Dies spiegelt die Wirklichkeit insofern wieder, als bei der Reproduktion des Kapitalismus auf seiner eigenen Grundlage durch die Lohnarbeit immer wieder die Verhältnisse der Warenproduktion und Privateigentum erzeugt werden. Offen bleibt aber die Frage, wie das erste Privateigentum, bzw. die erste entäußerte Arbeit entstanden ist. Bei einer Überbetonung der Erzeugung der Bedingung durch die Tätigkeit ließe sich schließen, dass die Beteiligten einfach damit aufhören könnten. Aus der Betonung der dabei inzwischen historisch verfestigten objektiven Bedingungen folgt, dass erst die radikale Aufhebung dieser Bedingungen (kapitalistische Eigentumsverhältnisse) den Raum für eine neue Praxen öffnen kann. Der Marx des „Kapital“ hat erkannt, dass es nicht mehr primär um entfremdendes, entäußerndes Tun geht - sondern dass die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus sich tatsächlich als „Verhältnissen von Dingen“ (MEW 23/Kap: 68) zeigen. Der Kern des Fetischkapitels ist es, dieses „Verhältnis von Dingen“ als verkehrt erscheinendes Verhältnis von Menschen zu entschlüsseln. Trotzdem ist der Ausweg nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse einfach auf intersubjektive Beziehungen von abstrakt gesehenen Menschen zu reduzieren, sondern die jeweiligen konkret-historischen Bedingungen mit zu betrachten.

Es geht also nicht nur um Beziehungen von beliebigen Individuen, die sich beliebig verhalten könnten (dies könnte man aus den Frühschriften von Marx noch entnehmen) – sondern um Verhältnisse, die über konkrete Voraussetzungen vermittelt sind, die Möglichkeitsräume für das Verhalten abstecken. Eine Überwindung gegebener Verhältnisse kann ihre Begründung also nicht aus einem überhistorischen Gattungswesen beziehen - sondern aus der Analyse der heraustreibenden Widersprüchlichkeit der konkreten subjektiven und objektiven Faktoren.

Marx geht in seinen weiteren Arbeiten genau diesen Weg – die Methode beschreibt er in Ansätzen in der Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ (MEW 42/EGr). Als konkret-Allgemeines gelten ihm jetzt die verschiedenen gesellschaftlichen Epochen, die sich durch bestimmte bestimmende Merkmale der Produktion unterscheiden. Hier unterscheidet er ausdrücklich zwischen einer logisch-begrifflichen Entwicklung und dem historischen Werdegang (ebd.: 32). Die logisch-historische Methode ist bedeutsam für das Erkennen der historischen Entwicklungstendenz innerhalb einer solchen konkreten Allgemeinheit, einer spezifischen Gesellschaftsform.

Damit ist letztlich, und dies vertritt auch Sahra Wagenknecht, für die Kritik gegebener Verhältnisse kein abstrakter überhistorischer Maßstab (der Vernünftigkeit, des menschlichen Gattungscharakters etc.) mehr gerechtfertigt – sondern es muss jeweils eine konkret-historische Begründung der Überlebtheit dieser Gesellschaftsform erarbeitet werden (Wagenknecht 1997: 186).

Dafür gibt es auch einen Hinweis. Wenn wir eine Gesellschaftsform als durch für diese Form spezifische wesentliche Beziehungen bestimmt denken, so suchen wir nicht nur nach einer „Differenz innerhalb der Existenz eines Wesens“ ((MEW 1/KHS: 293), sondern nach einem „wirklichen Gegensatz sich wechselseitig ausschließender Wesen“ (ebd.). Dazu kommt es erst dann, „wenn eine bestimmte Institution (oder auch eine bestimmte Klasse) keine notwendige Funktion zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Lebensprozesse mehr besitzt, d.h. im konkreten Bewegungszusammenhang der gesellschaftlichen Reproduktion keinen Grund mehr findet“ (Wagenknecht 1997: 143).

Heute ist also zu fragen: Welche Funktion erfüllen die Eigentümer an Produktionsmitteln? Sie verantworten die Verteilung der Ressourcen und koordinieren die Arbeitsteilung (weil sie über die Entscheidung, Kapital zu investieren oder nicht, arbeiten zu lassen oder nicht, dies oder jenes herstellen zu lassen die gesellschaftliche Produktion koordinieren, wobei sie dies nicht als frei entscheidende autonome Subjekte tun, sondern entsprechend dem Wertgesetz als „Charaktermasken“). Jetzt wäre 1. zu zeigen, dass diese Art und Weise der Organisation der Produktion nicht mehr nur ihre Versprechen nicht erfüllt (menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, Wohlstand zu schaffen), die gesellschaftlichen Lebensprozesse nicht mehr angemessen aufrecht erhält, sondern sogar gefährdet (Klimawandel!) und 2. die reale Möglichkeit vorhanden ist, dass wir Menschen die Produktion der notwendigen Güter auf ökologisch angemessene Weise anders organisieren können.

Es wird sich zeigen, dass es nicht mehr um die Funktionsweise eines Magens und der Körperteile geht, sondern dass wir es mit einer Puppenhülle zu tun haben, die der Schmetterling durchbrechen und hinter sich lassen muss.
 

Hegels Konzept der „Sittlichkeit“ als Wegweiser für das anthropologisch-Allgemeine

Kommen wir nun noch einmal zurück zu Hegel. Was lässt sich aus der allgemeinen Struktur von konkret-Allgemeinem, wie es bei Hegel z.B. für die Sittlichkeit diskutiert wird, lernen, um der abstrakten Trennung der Individuen untereinander sowie der Individuen und ihrer Gesellschaft zu entkommen? Es zeigt sich, dass er bei seinen Abhandlungen zum Thema „Sittlichkeit“ und „Staat“ keine Unterscheidung zwischen dem, was ich als abstrakt-anthropologisch und konkret-kapitalistisch-allgemein unterscheiden würde, kennt. Deshalb verschränkt sich bei ihm die „Rose“, die anthropologische Grundstruktur des Gesellschaftlichen, immer wieder mit Darstellungen durcheinander, die dem spezifischen konkret-Allgemeinen im Kapitalismus entsprechen, und die wir heute als das „Kreuz“ der Zeit kennzeichnen würden.
Was ist wichtig und wegweisend an seinen Überlegungen?

  1. Menschliche Beziehungen beschränken sich nicht auf familiäre Gemeinschaften, sie lassen sich nicht reduzieren auf die ökonomischen Strukturen – sondern sie bilden eine eigengesetzliche Sphäre, aus welcher sich gesellschaftliche Erscheinungen in ihrer jeweiligen konkreten Verwirklichung begründen lassen. Dabei ist auch ihre historische zeitliche Abfolge als „Weltgeschichte“ berücksichtigt.
  2. Das Gesellschaftliche („Sittliche“) zeichnet sich dadurch aus, dass es den Individuen gegenüber nichts Fremdes ist. Zwar schränkt es Willkür ein und erfordert Menschen, die zu Vernunft herangebildet sind, aber letztlich ermöglicht es erst die Gesellschaft, dass jedes Individuum als Mensch lebt, d.h. sich als Mensch über die Beteiligung an der gesamtgesellschaftlichen Produktion reproduziert und auch teilhat an allen ideellen Schöpfungen und Errungenschaften der gesamten Menschheitsgeschichte.
  3. Vernünftigkeit (die sich in funktioneller Organisation zeigt) und Freiheitlichkeit (sich selbst im Anderen erkennen und in diesem nichts Fremdes mehr fürchten) in ihrer wechselseitigen Bestimmung können als Richtlinie für den Fortschritt gelten.
 

 
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