Jetzt erst recht... !!!

 

Diesmal können wir nicht mehr darauf vertrauen, daß "schon alles wieder gut" werde. Die Hoffnung darauf würde dazu führen, nach Beendigung der "heißen Phase" der Bombardierung wieder zur Tagesordnung überzugehen wie nach den Golfkriegen. Auch Wut und Trotz vieler Kriegsgegner blockieren auf Dauer nur. Angemessener ist vielleicht ein von Ernst Bloch angesprochener militanter Pessimismus.

Militanter Pessimismus

Nichts wird wieder, wie es war. Nach 8 Wochen Bombenkrieg in Jugoslawien, als "Kosovo-Krise" verniedlicht, ist die Welt eine andere als vorher:

  • Tausende Menschen mußten zusätzlich sterben. Die zerbombten materiellen Werte werden sich, wie immer, wieder aufbauen lassen. Die Umwelt jedoch wird auf Jahrzehnte in großen Maßstäben verseucht bleiben.
  • Das durchgesetzte "Recht des Stärkeren" hat alle Maßstäbe politischen Willens und Handelns auf den Kopf gestellt. Statt die völkerrechtlichen Institutionen zu stärken, werden sie durch ihre leichtfertige Aufgabe endgültig der Gefahr der Zerstörung ausgesetzt.
  • Statt daß alle übrigen potentiellen "Unruhefaktoren" sich der Machtdemonstration beugen, werden sie versuchen , sich in Zukunft zu schützen. Die A-Bombe in Indien bekommt jetzt ihren nachträglichen Sinn. Eine allgemeine Destabilisierung ist die Folge.
  • Die bedeutendsten Fähigkeiten und Eigenschaften der Menschen: die Mitmenschlichkeit, moralische Verletzlichkeit, das Bedürfnis nach Frieden und Freiheit wurden instrumentalisiert als Mittel der Kriegstreiberei. Diese moralischen Werte wurden mißbraucht zur Lähmung des Nachdenkens, der Vernunft, der rationalen Suche nach wirklichen Alternativen, die über das Entweder-Oder verschiedener Barbareiformen hinausgehen.

Es deutet sich an, daß die Prozesse im Balkan abgesehen von den blutigen Kämpfen ein Anzeichen für grundlegende Veränderungen sind. Die moderne Weltordnung zerfällt (Vukovic b), die "Moderne" hat ihre zivilisatorische Mission ausgespielt (Lohoff).

Die Weltgeschichte hat einen neuen "Bifurkationspunkt" erreicht. Es gibt immer "Potentiale" durch die gegebenen weltpolitischen und -wirtschaftlichen Strukturen, aber die Entscheidung zwischen relativ stabilen "Ruhelagen" fällt in den Bereichen, in denen im übertragenen Sinn eine Kugel auf Gipfeln oder Berggraten in die eine oder in die andere Richtung rollen kann. Kleine Ursachen und Anlässe haben dann weitreichende globale Veränderungen.

Während in den letzten 50 Jahren die Friedensfähigkeit der großen Gesellschaftssysteme vorwiegend durch das System der gegenseitigen Abschreckung aufrechterhalten wurde (abgesehen von den vielen "kleinen" Kriegen in dieser Zeit), hat sich dieses Potential nach 1990 entscheidend verändert.

Es ist zu fragen, welche Potentiale der Friedensfähigkeit für den jetzt global herrschenden Kapitalismus als angebliches "Ende der Geschichte" möglich sind. Hierzu sind alle Register der innerkapitalistischen Friedens- und Konfliktforschung zu ziehen, auf den Punkt zu bringen, durchzusetzen. Bisher haben viele von uns ja auch eher "schwarz-weiß" gedacht: "Sozialismus=Friedensgarant / Kapitalismus= Kriegstreiber". Deshalb haben wir uns keine Gedanken über die Zwischenstufen gemacht: Welche Möglichkeiten im Völkerrecht, UNO etc. gefunden wurden, um Frieden zu schaffen und zu erhalten. Klar kann man heute auch sagen: "In einer kapitalistischen Welt wird es immer weitergehen, der kriegerisch-barbariche Untergang dieser/unsrer Zivilisation wurde mit den Bomben auf Belgrad eingeleitet - die einzige Alternative wäre eine (nach neuem Modell) sozialistische Welt". Aber ich denke, es kommt darauf an, die auch IM Kapitalismus bisher erarbeiteten Ansätze wieder neu zu entdecken aus der Verschüttung, weiterzuverfolgen, weiterzuentwickeln.

Wir können z.B. anfangen beim Konzept der GRÜNEN von 1996, wo sie selber noch von einer "Zivilisierung der Außenpolitik" sprachen und sich auf oben erwähnte Friedens- und Konfliktforschungsansätze bezogen. Dadurch wird das Denken von der schlechten Alternative (NATO-Bomben / Milosevic-Verbrechen) auf einen umfassenderen Horizont gelenkt (Anwendung älterer und Suche nach neuen nichtmilitärischen Konfliktbewältigungsformen). Erstens können wir damit schon einen großen Teil der heute herrschenden Demagogie entlarven, weil klar wird, daß nicht einmal diese ausgereizt wurden und z.T. die ganze Zeit schon auch systematisch verschwiegen, unterbelichtet werden (auch von und bei vielen Linken). Zweitens kommen dann natürlich die Fragen: WARUM wird das erstens nicht ausgereizt, weiterentwickelt und dann noch weiter: WARUM ziehen viele dieser Versuche dann vielleicht doch nicht endgültig? Beide Warums leiten zur Kritik der Ursachen (Kapitalismus) - aber vermittelt über das konkrete Problem und nicht abstrakt (weil wirs ja aus dem "Wesen des Kapitalismus" abstrakt herleiten und wissen können).

Wenn wirs nicht auch konkret vermittelt darlegen können, nützt uns das abstrakt-allgemeine Prinzip, seine Anwendung als Schema nicht viel außer uns ein gutes (?) Gefühl der Besserwisserei zu geben.

Militanter Optimismus

Gerade weil keine Hoffnung mehr besteht, daß es so weitergeht wie vorher, müssen wir uns neu orientieren.

Vielleicht ist das Ende der menschlichen Zivilisation eingeleitet, die Kugel in die Richtung der Endzeit-Barbarei - wie in vielen Science-Fiction-Filmen vorgeahnt - gerollt. Gerade dann macht es Sinn, nicht einfach weiterzuleben wir vorher, sondern die letzten Zipfel einer Alternative anzupacken und sie weiterzuentwickeln.

Die Potentialveränderung hat auch in anderen Gebieten als den Gefahren Veränderungen mit sich gebracht:

  • Die Bemühung, über diese NATO-Aktionen die Macht über die globale Wirtschaft und Politik endgültig an sich zu reißen, weckt und stärkt Gegentendenzen in Ländern, die sich ökonomisch bereits weitgehend unterworfen hatten, jedoch nun erneut eine Differenzierung herbeiführen werden. Die chinesische Opposition verbrannte nach der Ermordung von Journalisten in der chinesischen Botschaft in Belgrad die amerikanischen Flaggen, die sie noch kurz vorher als Symbol ihrer Vorbilder mit sich geführt hatten.
  • Mit dem Nachweis der Haltlosigkeit aller versuchten Alternativen zum Kapitalismus schien das "Ende der Geschichte" in einer globalen kapitalistischen Welt eingeläutet. Gerade durch die Suche nach den Interessen der NATO-Aggressoren - weil ja keine direkten ökonomischen Interessen unterstellt werden können - führte doch einige nachdenkende Menschen auf die Problematik der dieser Gesellschaft zugrundeliegenden Strukturen. Keine linke Propaganda hätte so viele Augen öffnen können. Jetzt ist der Diskurs erst einmal wieder eröffnet und muß statt mit Parolen endlich mit Substanz gefüllt werden.
  • Gerade die Forderung nach einem "gerechten Frieden" lenkt die Aufmerksamkeit auf notwendige strukturelle Grundlagen eines solchen Friedens.
  • Angesichts der auch meiner Generation vermittelten Hoffnung auf gezogene Lehren aus den beiden Weltkriegen macht die breite Zustimmung zum Krieg traurig. Gerade angesichts der geschichtlichen Erfahrung ist es jedoch bereits ein Fortschritt, daß sich immerhin ca. die Hälfte der Menschen gegen den Bombenkrieg aussprechen, daß die Militärs zumindest Rücksicht darauf nehmen müssen, daß zivile Opfer und tote Soldaten die Kriegsbereitschaft mindern. Vielleicht müssen diese Fortschritte für dieses Jahrhundert ausreichen, auch wenn wir uns mehr wünschten.
  • Die Verunsicherung, welche moralischen Werte mit welchen Mitteln realisiert werden können, führt zu unabweisbaren Fragen. Ihre Beantwortung erzwingt neue Ansichten, die das Wissen um politische Möglichkeiten und Strategien erweitern kann. Gerade die Frage "Was hätte man denn sonst machen können?", "Welche Alternativen gab/gibt es?" muß nicht abgelehnt, sondern weiter untersucht werden.

Letztlich erzeugen auch die eigentlich sehr pessimistisch zu bewertenden Faktoren die Möglichkeit eines "Überschießens". Diese weiterführenden Möglichkeiten realisieren sich nicht automatisch, sondern nur, wenn wir sie bewußt ergreifen und vorwärtstreiben.


Siehe auch:

Erst mal wieder
ins Philosophenstübchen

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