Bedürfnisse

Bereits Tiere sind nicht nur bestrebt, unmittelbare physiologische Mangelzustände (Hunger...) auszugleichen. Der Bedarf ist u.U. unabhängig von der Stoffwechselfunktion - er tritt bereits vorher ein, damit die Nahrungssuche beginnen kann, bevor der "Hunger zuschlägt". Zum Bedarf bei Tieren gehört auch die emotionale Wertung im Zusammenhang zwischen organismischem Ungleichgewicht und der Fähigkeit zu seiner Beseitigung aufgrund der Aktivitätsumsetzung von Bedeutungen (Holzkamp 1985, S. 101).

Dazu ausführlicher Stefan Meretz:
Was sind "Bedarfsstrukturen"?
Bedeutungen fassen ein Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt, das deterministisch ist. Dennoch kommt es beim Auftreten einer Bedeutung nicht zwingend zur Aktivität (das wäre ja dann so wie bei der physikalischen Ursache-Wirkungs-Relation). Eine weiterer notwendiger Aspekt der deterministischen Organismus-Umwelt-Zusammenhangs ist der innere Zustand des Organismus, der Bedarf. Dieser innere Zustand variiert, folglich auch der Grad der organismischen Aktivitätsbereitschaft. Erst wenn aktueller Bedarf und Bedeutung zusammentreffen, kommt es zur Ausführung der Aktivität. Das wird in der GdP auch "Bedeutungsaktualisierung" genannt. Der für diesen zu-sätzlichen Begriff ist, dass es sich strenggenommen bei den "Bedeutungen" nur um "potenzielle Bedeutungen" handelt. Die mögliche Bedeutsamkeit eines Signals wird nur mit der Aktivität "wahrgenommen" (aktualisiert) - sonst nicht. Ohne ausgelöste Aktivität existiert das Signal als Bedeutung für den Organismus nicht. Die Bedarfsstrukturen widerspiegeln die artspezifischen Bedeutungsstrukturen. Sie sind die "Netzwerke" der inneren Aktivitätsbereitschaften, die auf die möglichen zu aktualisierenden Bedeutungen verweisen. Wenn im folgenden auf unspezifisch-biotischem Niveau von "Bedeutungen" oder "Bedeutungsstrukturen" die Rede ist, dann sind damit immer "potenziell aktualisierbaren Bedeutungen" gemeint. Mit der in der Phylogenese folgenden Ausdifferenzierung der psychischen Funktionen einher geht die Ausdifferenzierung der Bedeutungs- und Bedarfsstrukturen. Auf menschlichem Niveau wird aus dem "Bedarf" das "Bedürfnis". Die Bezeichnung für die "Bedeutung" bleibt demgegenüber bestehen, die inhaltliche Fassung des Begriffs ändert sich jedoch ähnlich wie beim neuen Bedürfnisbegriff qualitativ.
(Stefan Meretz, in: »Die Grundlegung lesen...« Eine Einführung in die "Grundlegung der Psychologie" von Klaus Holzkamp, Manuskript - März 2001)

Auch Tiere streben bereits nach individueller Umweltkontrolle. Bei Menschen verändert sich die Art der Umweltkontrolle: es geht um die verallgemeinerte Verfügung über die Arbeitsmittel bei der kooperativen Schaffung von Lebensmitteln/-bedingungen (S. 240). Die bloß erkundende Umweltbeziehung der Tiere wird bei Menschen zur gestaltenden Weltbeziehung (S. 214) mit dem Ziel der verallgemeinert-vorsorgenden Abgesichertheit, nicht nur der primären Bedarfsbefriedigung (S. 215).

Die individuelle Umweltkontrolle der Tiere wandelt sich beim Menschen zur personalen Handlungsfähigkeit: Hier geht es um die "Verfügung des Individuums über seine eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß" (Holzkamp, S. 241).

Damit wird die Handlungsfähigkeit zum ersten menschliches Lebensbedürfnis (S. 243).

"Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen liegenden Bedürfnisse realisieren sich also hier in der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d.h. sie treten in Erscheinung als subjektive Erfahrung der Einschränkung der Handlungsfähigkeit, was gleichbedeutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Überwindung dieser Einschränkung." (S. 241)

Zum Kritierium für die Bedürfnisbefriedigung wird damit nicht nur die Beseitigung unmittelbarer Mangelzustände (kein Hunger), sondern die Verfügung über die eigenen relevanten Daseinsbedingungen und Lebensquellen (S. 243). Die Qualität der existenzsichernden Primärbedürfnisse ist bei Menschen so spezifiziert, daß eine optimale Befriedigung hier nur noch im Zustand der vorsorgenden Abgesichertheit erlangt werden kann (S. 296). Das heißt, daß das "Füttern" hungernder Menschen nicht ausreicht, menschliche Bedürfnisse sind erst dann befriedigt, wenn das Leben prinzipiell von der Bedrohtheit durch Hunger befreit ist.

 

Menschliche Bedürfnisse sind historisch veränderlich. sie umfassen "alle... Befriedigungs- und Erfüllungsmöglichkeiten ... auf einer jeweils bestimmten historischen Stufe einschließlich "geistig", ästhetisch, künstlerisch verdichteter und überhöhter produktiv-sinnlicher Erfahrungsmöglichkeiten" (S. 309)

 

Literatur:

Holzkamp, K., Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main, New York 1985

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