4. Was tun?

Subjektstandpunkt und objektive Bedingtheit *
Intersubjektivität *
Selbstbestimmung/-entfaltung und die Anderen *
Die Aufhebungsperspektive *

Subjektstandpunkt und objektive Bedingtheit

Ich schreibe diesen Text nicht, um mich selbst über meine individuelle Psyche aufzuklären, sondern ich verfolge durchaus politische Absichten damit: Selbstaufklärung über das, was Menschen tun können, um ihr gesellschaftliches Leben zu verbessern. Wir waren vom Subjektstandpunkt ausgegangen. Insofern ist das "wir" hier schon unangemessen, denn ich als (Erst-)Autorin dieses Textes bin davon ausgegangen. Ist es vom Subjektstandpunkt her überhaupt angemessen "über andere Leute" zu reden und zu schreiben, was ja politisches Denken in gewissem Sinne erfordert? Die Antwort heißt "Nein". Ich kann über andere höchstens als "solche, wie ich" reden. Auch sie sind Subjekte. Und die Subjektivität zeigt sich darin, daß jedes Individuum etwas Besonderes ist. Aber die Subjekthaftigkeit ist uns gemeinsam. Das heißt, wenn ich "über die anderen" spreche, kann ich nur über "solche wie mich" sprechen. Allgemeine Aussagen, die über mein Individuelles hinausgehen, betreffen nicht mich allein, sondern "je mich".

Der Subjektstandpunkt erfordert die Anerkennung, daß "jeder der Beteiligten (hat) von seinem Standort aus eine eigene Perspektive auf die Gesamtszene, die mit der meinen absolut gleichwertig ist, und der gegenüber meine eigene Sichtweise keinerlei Privileg oder Vorteil hat" (Holzkamp 1996,S. 94). Diese "dezentrierte Sicht" bedeutet nicht, daß es völlig beliebig wäre, wie jedes einzelne Indviduum die Welt sieht. Anfällig für solche postmoderne (nach-modernes, d.h. das typisch "moderne" Vernunftdenken ablehnende Denkmuster) Beliebigkeit ist das deutende Denken. Mal wird so und mal wird so gedeutet. Den Personen werden Eigenschaften angedichtet, die sich beliebig verändern können. Situationen werden verschieden gedeutet...

Durch begreifendes Denkens kann ich jedoch auch erkennen, daß ich als Subjekt "objektiven gesellschaftlichen Lebensbedingungen unterworfen bin" (Holzkamp 1985, S. 539). Diese teile ich mit anderen. "Der >Standpunkt des Subjekts< schließt also die Berücksichtigung objektiver Bedingungen keinesfalls aus." (ebd.). Durch den Subjektstandpunkt sind also Theorien, die andere Standpunkte einnehmen, wie Gesellschaftstheorien, nicht außer Kraft gesetzt. Wir brauchen sie zum Erkennen der Bedingungen, die wir ja dann u.U. auch in Frage stellen wollen. Dazu müssen wir sie kennen und dazu brauchen wir auch andere Denkweisen als jene vom Subjektstandpunkt.

Aber auch vom Subjektstandpunkt aus ist eine Verallgemeinerung möglich. Ich hatte bereits betont, daß es nicht nur um "mich allein" geht, sondern um "je mich". Verschiedene Subjekte können sich über ihre je individuellen Befindlichkeiten verständigen. Dazu brauchen sie geeignete subjektwissenschaftliche Kategorien, die vor allem die Kritische Psychologie zur Verfügung stellt und weiterentwickelt. Jede/r Einzelne kann mit Hilfe dieser Kategorien seine eigene subjektive Befindlichkeit durchdringen. Er kann sich mit ihrer Hilfe anderen verständlich machen (vgl. dazu auch Holzkamp 1985, S. 542f.). Das erfordert, daß es keine abgehobenen Positionen eines "Wissenden" gegenüber "Beforschten" geben darf.

Der Zweck der Ableitung dieses recht komplizierten Kategoriensystems ist nicht die Erstellung einer "perfekten psychologogischen Theorie über Menschen", sondern mit ihrer Hilfe sollen sich verschiedene Menschen gleichberechtigt (intersubjektiv) über ihre jeweils spezifischen Befindlichkeiten - die ja auch immer mit der gemeinsamen Welt zu tun haben - verständigen können. Zuerst liegen uns nur subjektive Befindlichkeiten vor. Unwohlsein, Ängste, mitunter die Lebensmöglichkeiten stark einschränkende psychische Befindlichkeiten. Diese psychischen Befindlichkeiten sind niemals etwas nur-Innerliches, nur-Persönliches der oder des Betroffenen. Die Kritische Psychologie arbeitet der Personalisierung grundsätzlich entgegen, indem sie alle psychischen Faktoren als Verhältnisse zwischen Individuum und Umwelt/Welt auffasst. Die Untersuchung solcher Befindlichkeiten wird also gerade bei dieser Subjektwissenschaft immer auch im begreifenden Sinne auf die gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sein. In der Kritischen Psychologie geht es "nicht um die Erfassung der Individuen, ihrer Denk- und Handlungsweisen, sondern Gegenstand der Untersuchung sind die konkreten Lebensbedingungen in ihrer subjektiven Bedeutung." (Osterkamp 2001, S. 8), bzw. "die "Welt", wie sie dem Subjekt gegeben ist" (Holzkamp 1986, S. 30). Anders herum interpretiert betrachtet die Kritische Psychologie das Subjektive auch immerhalb innerhalb dieser Welt, speziell der gesellschaftlichen. Es geht für das Subjekt darum, "... die jeweils eigenen Probleme in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu begreifen" (Osterkamp 2001, S. 26). Denn das Eigene ist niemals nur etwas Innerliches oder Persönliches - sondern ist vielfältig vermittelt mit der Welt.

Vorausgesetzt wird, daß kein Mensch bewußt gegen seine eigenen Interessen handelt. Wenn er etwas tut, was von außen so aussieht, dann ist dieses Tun aus seiner Sicht (Subjektstandpunkt!) in irgend einem Sinne subjektiv funktional: Es hilft ihm, zu leben - unter den jeweils gegebenen Bedingungen. Wir können dann gemeinsam herausbekommen, wie diese Bedingungen verändert werden sollten und vielleicht auch können. In dieser intersubjektiven Verständigung erfahren wir, daß von bestimmten Standorten aus bestimmte Handlungsmöglichkeiten verallgemeinerbar sind (vgl. Schumak, Schultz 2001, S. 67). Das Objektivier- und Verallgemeinerbare der Subjektwissenschaft besteht in der Verständigung über Verfügungsmöglichkeiten und deren jeweils konkret gegebene Behinderung (Holzkamp 1985, S.548, vgl. S. 579).

Intersubjektivität

Der Subjektstandpunkt darf auch nicht prinzipiell aufgegeben werden, wenn wir uns überlegen, wie wir politisch handeln können. Auch wenn ich meine, in der Erkenntnis von Verfügungsmöglichkeiten und Behinderungen weit gekommen zu sein - ich kann dies nie stellvertretend "für andere" tun und ihnen dann quasi "von außen her" aufdrängen. Auch wenn ich stellvertretend für sie handle, mißachte ich ihre Subjektivität, mache sie zu Objekten meines Tuns. Dieser Subjektstandpunkt ist noch konsequenter als beispielsweise ein allgemeiner Verweis auf Selbst-Organisierung. Bei dem Konzept der Selbst-Organisierung denke ich oft folgendes: "Die Menschen wollen/sollen sich selbst organisieren - wir können dafür vielleicht die Bedingungen verbessern." Ich fange dann an zu überlegen, unter welchen Bedingungen sie sich vielleicht am besten selbst organisieren könnten. Unter der Hand, ungewollt, entziehe ich ihnen damit die Selbstbestimmung über diese Bedingungen. Ich will sie "für sie" erkennen und festlegen und vielleicht sogar schaffen. Vom Subjektstandpunkt aus gesehen, läuft da etwas schief:

Sobald gefragt wird: "Unter welchen Bedingungen tun Menschen dies oder das?" (auch gut gemeint: sich gewerkschaftlich organisieren etc.), "wird mithin der fortschrittlich gemeinte Inhalt der Förderung der kollektiven Selbstbestimmung der Individuen notwendig dadurch zurückgenommen, daß man nach den fremdgesetzten Bedingungen für diese Selbstbestimmung fragt." (Holzkamp 1985, S. 530)

Politisch zu wirken, heißt nicht, sich für abstrakte Ziele oder "für andere" einzusetzen, sondern zuallererst, mich für die Überwindungen der je eigenen Entwicklungs- und Handlungsbeschränkungen einzusetzen (vgl. Osterkamp 2001, S. 29). Daß ich dies nicht alleine kann, ist selbstverständlich. Wenn ich mit anderen zusammenwirke, kann ich die Gemeinsamkeit aber nicht "von außen" her erzeugen. Nur in der intersubjektiven Verständigung kann uns dies gelingen.

Machen wir uns diese Mühe nicht, beginne ich die jeweils Anderen für meine Zwecke zu instrumentalisieren und werde selbst auch instrumentalisiert. Menschen sind einander nicht nur Instrumente zur gegenseitigen Benutzung. Jeder Mensch kann in jedem anderen ein Wesen "wie es selbst", mit Bewußtsein, Absichten, Bedürfnissen usw. erkennen. Diese Reflexivität ist ein Spezifikum der menschlichen Sozialbeziehung (Holzkamp 1985, S. 238). In der kapitalistischen Realität wirkt jedoch eine Entfremdung schon auf jedes Kind ein, bei der subjekthafte Beziehungen tendentiell auf instrumentelle reduziert werden. Es gäbe kaum Hoffnung, wenn diese Deformierung tatsächlich dem "natürlichen menschlichen Wesen" entspräche. Zur radikalen Veränderung der Gesellschaft, wie wir sie anstreben, gehört unbedingt eine Rückgewinnung des Subjektiven gegenüber der Instrumentalisierung.

"Subjektbeziehungen sind Beziehungen zwischen Menschen, in denen das gemeinsame Ziel der Beteiligten prinzipiell mit allgemeinen gesellschaftlichen Zielen zusammenfällt" (Rudolph 1996, S. 45). Dabei muß sich der Einzelne keinem Ganzen unterordnen, sondern sein ganz individuelles Sein - wie das der anderen - schafft die Gesellschaft. Wenn er sich - was ansonsten "egoistisch" genannt wird - ganz für sich und seine Interessen einsetzt, setzt er genau damit das Stückchen Gesellschaftlichkeit in die Welt, das seiner Individualität entspricht. Die individuelle Subjektivität ist die "Gewinnung der bewußten Bestimmung der eigenen Lebensumstände in gleichzeitiger Überschreitung der Individualität, da durch Zusammenschluß mit anderen unter den gleichen Zielen die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die eigenen Lebensbedingungen sich potenzieren" (Rudolph 1996, S. 45).

Auf dieser Grundlage lassen sich zwei typischen Formen von Verhältnissen zwischen Menschen unterscheiden (Rudolph 1996, S. 46):

Subjektbeziehungen

Instrumentalverhältnisse

  • Die gemeinsamen Ziele der Einzelnen fallen prinzipiell mit allgemein gesellschaftlichen Zielen zusammen.
  • Es handelt sich um Beziehungen ohne Unterdrückung...
  • Das Interesse an der Subjektentwicklung des anderen Beteiligten ist das Interesse eines jeden.
  • Daraus entsteht ein begründbares, wechselseitiges Vertrauen...
  • Angstlosigkeit, Freiheit, Offenheit und Eindeutigkeit in der gegenseitigen Zuwendung.
  • Ein Zusammenschluß von Gleichgesinnten findet statt unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzbarkeit zufällig gleicher individueller Ziele gegenüber nicht Gleichgesinnten (oder gesellschaftlicher Partialinteressen gegeneinander)
  • Sie werden hergestellt und zusammengehalten über die Vorteile, die die Beziehung dem Einzelnen oder allen Beteiligten gegenüber anderen bringt
  • Sie werden reguliert durch Zwang, Abhängigkeit, Druck, Unterdrückung.

Subjektbeziehungen statt instrumenteller Beziehungen anzustreben, ist notwendig innerhalb einer herrschaftsfreien Gesellschaft ebenso wie für die Beziehungen unter den Akteuren auf dem Weg dahin.

Selbstbestimmung/-entfaltung und die Anderen

Die Bevorzugung des Subjektstandpunkts ist eine grundlegende Entscheidung. In der gegenwärtigen Situation wird sie jedoch notwendig, um überhaupt weiter zu kommen in der gesellschaftlichen Entwicklung. Die bürgerliche Revolution konnten noch "die einen" für "die anderen" machen. Was diese Fremdbestimmung überwinden will, wie alle Bestrebungen, den Kapitalismus zu überwinden, braucht notwendigerweise einen Subjektstandpunkt. Vom Subjekt muß der Widerstand und das Neue ausgehen. Nicht von einer abstrakten "Notwendigkeit des Fortschritts" oder ähnlichem. Die Individuen sind nicht Mittel zum Zweck der Gesellschaftsveränderung - sie selbst sind Zweck des gesellschaftlichen Lebens. Ihre Selbsterhaltung und -entfaltung. Das klingt wiederum sehr egoistisch - meint aber immer ein Subjekt, wie wir es in 2. ausführlich als immer bereits gesellschaftlich vermittelt nachgewiesen haben.

Selbstentfaltung und Subjektivität im kritisch-psychologischen Sinne besitzt von vornherein eine überindividuelle Qualität (Osterkamp 2001, S. 11). Subjektivität und Selbstbestimmung sind wie alle psychischen Kategorien der Kritischen Psychologie nicht lediglich aufs Innere und Persönliche bezogen, sondern erfassen Verhältnisse zwischen Individuen und Welt. Selbstbestimmung stellt ganz ausdrücklich die Frage nach der Handlungsfähigkeit des Individuums in seiner Welt.

Bei einem Treffen verschiedener Bewegungen und Netzwerke, die sich gegen Herrschaft in Form des globalen Neoliberalismus einsetzen, wurde aus dem Kampf der Schwarzen Gemeinden in Kolumbien gegen ihre Vertreibung berichtet, daß sich immer wieder auf eine alte Erfahrung aus der Sklavenzeit berufen: "Wir können als Gruppe nur frei sein, wenn alle anderen auch frei sind". Dies ist genauso erweiterbar auf das Individuum: Ich kann nur frei sein und mich weiter entfalten, wenn auch andere frei sind! Wenn ich auf das Bedürfnis nach Selbstentfaltung bei allen Menschen setze, brauche ich in diesem Zusammenhang keine Angst vor Egoismus haben. Wer sich selbst entfaltet - entfaltet seine besondere Gesellschaftlichkeit. Die braucht nicht "zusätzlich" in Form von "Verantwortung" oder ähnlichem hinzugefügt werden, als stünde Verantwortung im Gegensatz zur Selbstentfaltung. Iris Rudolph kennzeichnet die Parallelität von Selbst- und gesellschaftlicher Entwicklung: "Ich möchte eine Welt, in der die Menschen sich nicht gegenseitig benötigen, in der sie einfach durch das, was sie tun und alles lassen, für sich tun und lassen, gleichzeitig auch das Beste für alle anderen tun" (Rudolph 1998, S. 78).

Die Aufhebungsperspektive

Die derzeitigen Bedingungen entsprechen diesem Wunsch und den Möglichkeiten menschlicher Gesellschaftlichkeit noch nicht. Der Kapitalismus ist davon gekennzeichnet, daß die Menschen strukturell gezwungen sind, gegeneinander zu handeln. Um mich individuell reproduzieren zu können, muß ich mich in Verhältnisse begeben, in denen ich prinzipiell immer gegen andere arbeite. Ich werde nur so lange bezahlt, wie ich dem Kapitalgeber Profite erwirtschafte und dies kann er nur, wenn er gegen andere konkurriert. Dadurch stärke ich durch meine - unausweichliche - Beteiligung diese Verhältnisse, die intersubjektive Beziehungen zumindest stark behindern. Solange ich mich selbst in diesen Verhältnissen einigermaßen erhalten kann, macht es für mich und alle anderen schon Sinn, innerhalb der restriktiven Handlungsfähigkeit zu verbleiben. Diese Bedingungen entwickeln sich aber historisch immer mehr zuungunsten der Menschen (und der Natur). Für immer wenige Menschen macht es wirklich Sinn, ist es subjektiv funktional, diese Gegebenheiten zu als Unveränderliche akzeptieren. Auch im Arbeitsprozeß soll ich mich mittlerweile in produktiver Teamarbeit maximal selbst entfalten - aber nur solange und soweit damit Profit erwirtschaftet wird. Diese Beschränkung verweist von selbst darauf, daß es außerhalb dieser Schranken etwas anderes geben könnte:

Eine allgemeine Selbstentfaltung in die Gesellschaft hinein, bei der unsere Beiträge nicht mehr gegeneinander gerichtet sind, sondern sich optimal ergänzen. Der in der Lebenslage gegebene Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und profitabler Vermarktungsfähigkeit wird immer deutlicher für viele Menschen. Als Einzelner kann ich dann wenig erreichen, außer eventuell wieder gegen Andere mein eigenes Aktivitätsfeld erweitern. Solange ich das nur auf Kosten anderer tue, ist es aber keine wirkliche Selbstentfaltung. Ich habe aber die Möglichkeit, meine individuelle Ausgeliefertheit zu reduzieren, indem ich kollektive, intersubjektive Beziehungen aufbaue, in der wir uns gemeinsam für die Erweiterung der Vefügung über die Lebensbedingungen einsetzen können.

Niemand kann vorschreiben, wie das am besten zu tun sei. Trotzdem agieren wir nicht gleichgültig nebeneinander. Wir können uns gegenseitig helfen, unsere eigenen Interessen immer besser zu erkennen und die je eigene Situation zu durchschauen und konkrete "zweite Möglichkeiten" zu sehen und umzusetzen.

Mit Hilfe des Kategoriensystems der Krititschen Psychologie habe ich bisher Orientierungen in Richtung auf Intersubjektivität und der jeweiligen "Zweiten Möglichkeiten" erarbeitet. Sie wurden begründet durch die gesellschaftliche Natur der Menschen und die Tatsache, daß gesellschaftliche Handlungsnotwendigkeiten für den Einzelnen nur Handlungsmöglichkeiten sind. Die so begründeten Orientierungen "passen" erstaunlich gut auf jene Prinzipien, die Christoph Spehr in seinem Konzept für "Freie Kooperationen" formuliert hat.

Freie Kooperation hat drei Bestimmungen:

  • Freie Kooperation beruht darauf, dass die vorgefundenen Regeln und die vorgefundene Verteilung von Verfügung und Besitz ein veränderbarer Fakt sind und ihnen keinerlei höheres, objektivierbares Recht zukommt.
  • Freie Kooperation besteht darin, dass alle Beteiligten dieser Kooperation sie aufgeben, ihre Kooperationsleistung einschränken oder unter Bedingungen stellen können, um auf die Regeln der Kooperation in ihrem Sinne einzuwirken, und zwar zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis, und dass sie dies individuell und kollektiv auch wirklich tun.
  • Freie Kooperation bedarf einer Politik, die sie immer wieder aufs Neue realisiert, indem sie die Grenzen der Freiheit und die Realität der Gleichheit praktisch erprobt und indem sie die äußeren und inneren Voraussetzungen des "vergleichbaren und vertretbaren Preises" durchsetzt. (Spehr 2000, S. 11)

Wichtig ist hier, daß es für Freie Kooperationen keine "besten Regeln" zu finden gilt, sondern dies den Menschen immer selbst überlassen bleiben muß. Es geht nicht um eine optimale Regulation zwischen "eigentlich isolierten" Menschen, die lediglich die machtförmige Regulation in herrschaftsförmigen Gesellschaftsordnungen ersetzt. Die Subjekte stehen nicht mehr nur im Mittelpunkt einer Betrachtung "von außen", sondern die Betrachtung muß selbst vom Subjektstandpunkt ausgehen.

 

Abbildung 5: Beziehungen des Konzepts der Freien Kooperation zu Kategorien der Kritischen Psychologie

Spehrs Begriff von Kooperation bezieht sich auch auf interaktive oder gesamtgesellschaftliche Beziehungen. Wir sollten die oben getroffenen Unterscheidungen jedoch beibehalten. Z.B. ist es nicht möglich, die Einbindung in die Gesellschaft als Ganzes zu verlassen, wie es Spehr für alle Kooperationen fordert. Trotzdem geben uns die ausführlich diskutierten Prinzipien Hinweise, worauf zu achten ist. Die Prinzipien selbst können mit Hilfe der kritisch-psychologisch begründeten Kategorien besser aufgeschlüsselt werden.

 

zusätzliche (zu 1. bis 3.) Literatur:

Holzkamp, Klaus (1986): "Wirkung" oder Erfahrung von Arbeitslosigkeit - Widersprüche und Perspektiven psychologischer Arbeitslosenforschung. Forum Kritische Psychologie 18, S. 9-38
Holzkamp, Klaus (1996): Manuskripte zum Arbeitsprojekt "Lebensführung". Forum Kritische Psychologie 36, S. 7-112
Osterkamp, Ute (2001): Lebensführung als Problematik der Subjektwissenschaft. In: Forum Kritische Psychologie 43, S. 4-35
Rudolph, Iris (1996): Die Sex-Arbeit. Hetero macht auch nicht froh, Hannover
Spehr, Christoph (2000): Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation, zugleich Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Bremen. Steht im Internet zur Diskussion:
http://www.opentheory.org/proj/gleicher/v0001.phtml

 

  Dieser Text als Open-Theory-Projekt

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