Individuelle Selbstentfaltungsbedürfnisse
als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung I

Die Platzierung der menschlichen Individuen im Zentrum unseres Konzepts ist die Kernfestlegung. Sie sichert letztlich auch ab, dass das Konzept kein Modell werden kann, das den Menschen wie ein "Generalplan" übergestülpt werden könnte. Angesichts der akuten Gefährdung der Existenz der Menschheit schleichen sich heutzutage in die Pläne zur Rettung der Welt oft Gedanken ein, die die Bewahrung der Natur bzw. die Rettung von menschlichen Gemeinschaften so stark betonen, dass die einzelnen Menschen dahinter verschwinden bzw. sie sich diesen Zielen unterzuordnen haben. Letztlich ist die Zerstörung der Natur oder der Untergang von menschlichen Gemeinschaften auch nicht im Interesse der Individuen. Es hat deshalb keinen Zweck, diese hohen Ziele gegen individuelle Interessen auszuspielen. Trotzdem wird es oft vermieden, den Individuen die bestimmende Rolle zuzuschreiben, weil man von vornherein gegeneinander isolierte, entfremdete und egoistisch handelnde Menschen vor Augen hat. Dem gegenüber sei hier erinnert, dass es jedoch auch keinerlei wirkliche Erhaltung von Humanität und Entwicklung auf Kosten individueller Bedürfnisse geben kann. Im Gegenteil: "Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst" (Marx 1843: 370). Für die Gesellschaftskonzeption bedeutet dies: "Vor allem müßte es sich um eine Gesellschaft handeln, in welcher kein Mensch für einen anderen Mittel zum Zweck ist, sondern in der er stets und ausnahmslos Selbstzweck ist." (Fromm 1955/2004: 234) Diese Zentralstellung der Individuen hat weitreichende Konsequenzen. So werden dadurch alle Vorstellungen zurück gewiesen, bei denen die "Wirtschaft" den Vorrang erhielte, bzw. Faktoren aus dem wirtschaftlichen Bereich wie das Kapital. Auch die Unterordnung der Entwicklung von "allseitig entwickelten Persönlichkeiten" unter die "Arbeit zum Wohle der Gesellschaft", wie sie im Realsozialismus versucht wurde, ist dadurch obsolet. Der hier gewählte Bezug auf das Individuum muss aber sorgfältig unterschieden werden vom heutigen Alltagsdenken und der im bürgerlichen Denken zugrunde gelegten Individualitätsvorstellung. Diese wird deutlich im Artikel 4 der "Erklärung der Menschenrechte von 1791": "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was keinem anderen schadet." Karl Marx charakterisiert diese Form von Freiheit folgendermaßen: "Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückbezogener Monade." (Marx: MEW 1843: 364) Hier basiert die Freiheit "nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen vom Menschen" (ebd.). Wenn wir daran gewohnt sind, Gemeinsamkeiten nur zwischen auch isoliert existierenden Elementen denken zu können, liegt ein solches Modell von Freiheit nahe. Aber das ist nicht die einzigste Möglichkeit, Gemeinsames denken zu können.

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Zum Haupttext:
Selbstentfaltungs-Gesellschaft






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