Historische Möglichkeiten - Konkretisierung der Utopie

Es gibt verschiedene Ansichten darüber, welche Vorteile ein neues gesellschaftliches Konzept vorweisen muss, um Durchsetzungschancen gegenüber dem alten zu haben. Nicht nur die militärische "Macht aus den Gewehrläufen" entscheidet darüber und sicher auch nicht ewig die ökonomische Macht der profitgetriebenen Kapitalinvestitionsentscheidungen. Dass die ökonomische Macht des Kapital bröckelt, braucht nicht mehr bewiesen zu werden, in vielen Regionen der Erde hat sie bereits "verbrannte Erde" zurückgelassen, die auf neue Ansätze wartet (vgl. Boggs). Die ersten Pflänzchen einer neuen Zukunft sind bereits gesetzt. Aber es gibt noch einen Faktor, der bisher zu wenig berücksichtigt wurde: die Arbeitsproduktivität. Für Lenin war die Arbeitsproduktivität das "in letzter Instanz allerwichtigste, das ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung" (Lenin 1919: 261). Allerdings wurde bei der späteren Bezugnahme auf dieses Zitat vergessen, dass die Arbeitsproduktivität nicht selbst das Ziel darstellte, sondern lediglich ein wesentliches Mittel für ein anderes Ziel, nämlich das bessere Leben von Menschen sein sollte. Am Ende der DDR, als es zu spät war, erinnerte man sich sogar wieder daran. Jetzt wurde festgestellt: "Und durchgesetzt hat sich in der Geschichte stets die Gesellschaftsordnung, die dem Subjekt die besten Entfaltungsmöglichkeiten gab" (Söder 1989).

Inwiefern ist die Arbeitsproduktivität für die Entfaltungsmöglichkeit des Subjekts wesentlich? Die Frage der Effektivität im Sinne des Verhältnisses des erreichten Grades an Bedürfnisbefriedigung gemessen am Ressourceneinsatz (Arbeit, aber auch ökologische Beeinflussung) ist für jede Gesellschaftsform wichtig. Aber auch die Produktivität (bezogen auf den Einsatz lebendiger Arbeit) ist nicht unwichtig. Allein um die technischen Sachzwänge zu reduzieren, ist eine Vielfalt an Herstellungsmöglichkeiten für die verschiedensten Güter wichtig. Manche mag viel Freude daran haben, sich Kleidungsgegenstände auf einfache Weise selbst zuzuschneiden und zu nähen - aber andere sollten die Freiheit haben, statt auf zeitintensive Eigenarbeit oder ausbeutende hergestellte Industriewaren auf neuentwickelte Nähroboter zuzugreifen. Nur dann, wenn ich auf jeweils viele verschiedene Produktionsmethoden zugreifen kann, wird es mir Freude machen, am Produktionsprozess teilzunehmen - und dann kann Arbeit bzw. (Re-)Produktion selbst zum Bedürfnis werden, wie es auch von Marx einst gehofft worden war. Letztlich haben wir ja alle nicht nur konsumtive Bedürfnisse, sondern uns als Menschen kennzeichnet vor allem die Produktivität unserer Bedürfnisse (vgl. Fromm 1955/2004: 232, 305). Wir als die Subjekte unserer Tätigkeit müssen - so weit wie jeweils technisch realisierbar - auch die Zeitausnutzung und ähnliches selbst bestimmen können. Wir können Tätigkeiten langsam, "genüßlich", aber auch flink-produktiv erledigen - manchmal liegt uns das eine, manchmal das andere mehr. Technik soll für alle Bedürfnislagen zur Verfügung stehen, nicht nur für die Erhöhung der Produktivität wie heute - aber auch nicht beschränkt auf zeitzehrendes Tun, wie in früheren Zeiten. Auf dieser Grundlage kann es dann auch wieder zu einer neuen Einheit von Arbeit/(Re-)Produktion und Leben kommen. Diese Einheit ist dann aber nicht mehr arbeitsdominiert wie früher, als sich alle Lebensäußerungen an die Erfordernisse der notwendigen (Re-)Produktion anpassen mussten. In der familiären und dörflichen Landwirtschaft galt das Lesen beispielsweise bis in unsere Zeit hinein als verpönte Faulenzerei, weil es auf dem Bauernhof ja immer etwas Handfesteres zu tun gibt. Ein weiterer Grund dafür, dass insgesamt viele Prozesse der Tätigkeit hochproduktiv realisiert werden sollten, liegt darin, dass ein selbstbestimmtes Arbeiten auch Freiräume für einen spielerischen Umgang damit, für vielfältiges Ausprobieren und ähnliches haben muss. In der DDR wäre der allgegenwärtige Mangel noch größer gewesen, wenn der Arbeitsprozess nicht so straff durchorganisiert gewesen wäre. An spielerische, freiwillige Arbeit war da nicht zu denken, ohne die Versorgung noch mehr in Frage zu stellen.
Auf der Grundlage einer hohen gesamtgesellschaftlichen Effektivität entstehen erst die Freiräume, die Selbstbestimmung in diesem Bereich ermöglichen. Dann wird die Produktion nicht um der Produktion (oder des Mehrwerts) willen durchgeführt und die Produktivität nicht um der Produktivität als abstrakter Forderung willen erhöht, sondern im Interesse des menschlichen Reichtums im Sinne der Vielfalt menschlicher Bedürfnisse.

Es ist müßig, zu diskutieren, inwieweit die historische Möglichkeit zu solchen Lebensformen schon vor vielen Jahrzehnten gegeben war. Unverzeihlich jedoch wäre es zu denken, sie seien heute und auf absehbare Zeit noch nicht realisierbar. Wir können uns dabei auf die langen Erfahrungen der zum Kapitalismus alternativen Lebens- und Produktionskonzepte berufen - aber auch der Trend zu vernetzten Dezentralisierungsstrukturen in der kapitalistischen Produktion weist darauf hin, dass sogar unter kapitalistischen Bedingungen dezentralisierende Vernetzungen effektiver sind als technologische Zentralisierungen. Dass High-Tech und nichtkapitalistische Produktionsweise zusammen funktionieren, zeigt die schon erwähnte Freie Software. Es ginge nun "nur" noch darum, die Produktionsweise Freier Software (wertfrei, selbstbestimmt global-vernetzt kooperativ...) in anderen Produktionsbereichen in ähnlicher Weise durchzusetzen.

Technik ist eine Antwort, aber was war die Frage?

Das Verhältnis zur Technik muss dabei neu bestimmt werden. Während sie im Kapitalismus beinahe uneingeschränkt im Dienste der Mehrwerterzeugung steht und eher "nebenbei" auch der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zugute kommt, ist in diesem Konzept die Technik der Orientierung an der individuellen Selbstentfaltung untergeordnet. Es geht darum, im Interesse menschlicher Bedürfnisse zumindest teilweise mit hoher Effektivität in Strukturen, die "von unten" her koordiniert werden können zu produzieren. Diesem Ziel sind beispielsweise zentralistische Fließbandtechniken nur in sehr geringem Maße angemessen. Neben Bereichen, in denen Menschen auch entscheiden, auf hohe Arbeitsproduktivität und Technisierung zu verzichten, ist auch hohe Arbeitsproduktivität und intelligente Technisierung nicht automatisch mit technischer Entfremdung verbunden. Zu erinnern ist hier an die Erfinder-Schulen-Bewegung in der DDR, bei der Menschen aus ihren jeweiligen Arbeits- und Lebensbereichen lernten, sogenannte "raffiniert einfache Lösungen" mit jeweils dem Problem angepassten technischen Mitteln zu finden (Rindfleisch, Thiel 1994). Dem entsprechen auch Erfahrungen mit dem Konzept "New Work" z.B. in Afrika, wo nicht ExpertInnen aus den technisierten Ländern "Hilfe" geben, sondern die Menschen vor Ort technische Lösungen für ihre eigenen Probleme finden (Bergmann 2004). Insofern gilt es, die links-alternative Wende von den technischen Innovationen zu den sozialen Innovationen, wieder zurückzubinden an eine neue Weise der Entwicklung technischer Lösungen.

Die Illusion auf eine Befreiung von der Arbeit durch vollständige Automatisierung ist berechtigt ausgeträumt. Wir werden auf technizistische Auswüchse verzichten, aber sicher nicht zurückkehren zur nur handwerklichen Produktionsweise der früheren Jahrhunderte. So wie wir heutzutage mehrheitlich auch im alternativen Bereich den Computer und auch das Internet nutzen, werden wir auch im materiell-stofflichen Bereich sinnvollerweise auf die am höchsten entwickelten Produktionsmöglichkeiten zurück greifen. Im Vorgriff auf das, was künftig möglich sein wird, sei hier kurz auf die sogenannten "Rapid-Prototyping"-Techniken verwiesen (mehr in Nebelung 2005). Hier werden die Teile der Gegenstände meist nicht mehr ("subtraktiv") aus einem Materialblock herausgearbeitet (gedreht, gefräst, gebohrt) und dann aneinander montiert, sondern die Materialien werden ("additiv") über neue Techniken (Laser) aus kleinsten (pulverförmigen oder flüssigen) Teilchen aneinandergefügt. Dabei können komplexe Produkte in Einzelanfertigung hergestellt werden. Manchmal werden die Maschinen, mit denen dies möglich ist, auch "3D-Drucker" genannt, weil sie in ähnlicher Weise wie Drucker arbeiten, aber dreidimensionale Produkte herstellen. Und wie Drucker stehen diese Geräte dann eines Tages nicht mehr in zentralen Fabriken, sondern können von Gemeinschaften oder gar individuell als "community fabricator" (siehe Fußnote) eingesetzt werden.

Diese neue Möglichkeit der Kombination von Dezentralisierung bei hoher Effektivität und Produktivität für die bedürfnisgerechte Einzelproduktfertigung macht diese neuen Techniken besonders interessant. Wie alle Techniken seit Beginn des Kapitalismus wird auch diese erst einmal nur im Interesse des Profits entwickelt und eingesetzt, das schließt es aber nicht aus, später ihre weitere Entwicklung und ihren weiteren Einsatz in unsere Hände zu nehmen. Aufgrund der Materialvielfalt auf deren Grundlage diese Techniken arbeiten, macht es hier schon rein technisch weniger Sinn, dass jede Person seine eigenen Fabrikatoren hat (wie jetzt bei den PCs), sondern hier bietet sich eine gemeinschaftlich koordinierte Nutzung besonders an. Die neuen Umrisse der konkreten Utopie einer auf die Entfaltung der Individuen bezogenen Produktionsweise zeigen also die selbstbestimmt und selbstorganisiert koordinierte Nutzung und Entwicklung vielfältiger Techniken. Der Verweis auf die Technik soll kein Selbstzweck sein, sondern zeigt, dass diese Utopie kein Hirngespinst ist, sondern auf historisch gegebenen Möglichkeiten beruht, also im Sinne Ernst Bloch eine "konkrete Utopie" darstellt. In ihr werden gesellschaftlich-individuelle Selbstentfaltungsbedürfnisse im Rahmen der Koevolution mit der Mitwelt in vorwiegend dezentral-vernetzten Strukturen auf einem hohen Niveau befriedigt. Offen ist noch, wie wir auf Grundlage dieser bereits vorhandenen Trends (Dezentralisierte Vernetzung, Individualitätsentwicklung, Produktivität...) die bisherige Richtung der globalen Entwicklung umbiegen können von einem kapitalistisch-patriarchalen Zerstörungskurs in Richtung einer überlebensfähigen und lebenswerten Zukunft. Eine "sanfte Wende", an die Rüdiger Lutz noch 1987 glaubte, also ein mehr oder weniger friedliches Hinüberwachsen in die neue Gesellschaftsform auf Grundlage des Wachsens und Sich-Vernetzens der Keime der neuen Produktions- und Lebensweise, wird es wohl nicht geben. Das alte System wird vielleicht weniger Widerstand entgegensetzen, als wir bisher glaubten, sondern weite Gebiete der Welt als "verbrannte Erde" zurück lassen, die wir neu zu besiedeln haben (Boogs 2005). Die Hauptaufgabe wird darin bestehen, aus der daraus entstehenden neuen Barbarei heraus und gegen sie bestehend etwas Neues zu entwickeln und aufzubauen. Wir wären keine Menschen, wenn uns dabei nur immer die allernächsten Bedürfnisse des täglichen Überlebens interessieren würden. Es wird darauf ankommen, das Wissen um die Möglichkeit eines besseren Lebens zu bewahren und in Theorie und Praxis weiter zu entwickeln.

Fußnote:
Bisher wurde für diese Maschinen der Titel "Personal Fabricators" verwendet (Burns 2000, Gershenfeld 2000, Bergmann 2004), um die Parallelität mit der Entwicklung der "Personal Computer" zu betonen. Es ist aber sinnvoll, die Fabricator für stoffliche Gegenstände nicht vereinzelt individuell zu nutzen, sondern kollektiv für die individuelle und kollektive Nutzung bereit zu stellen. Aus diesem Grund schlage ich die Verwendung des Begriffs "Community Fabricator" vor.


Vergleiche auch:

Dieser Text im CoForum

Zum Haupttext:
Selbstentfaltungs-Gesellschaft






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