MARS-Utopien

Leben auf dem Mars gefunden!

Politische Science Fiction war selten geworden in den letzten Jahren. Das unendliche Weltall wurde den Träumern durch die durch und durch kommerzielle Raumfahrt entzogen. Das Utopische flüchtete sich in Cyberräume.
Die Mars-Trilogie von Kim Stanley Robinson mit den Titeln "Roter Mars", "Grüner Mars" und "Blauer Mars", der die Besiedlung und Veränderung des Mars beschreibt, sowie das darauf Bezug nehmende Buch "Weißer Mars" von Brian W. Aldiss und Roger Penrose nehmen sich dagegen recht altmodisch aus. Ohne schillernde Verwirrungen, mit klar identifizierbaren Protagonisten und durchsichtigen Interessen werden verschiedene Möglichkeiten des Handelns durchgespielt. Es gibt "Rote", welche die Schönheiten des stein- und windgeformten Mars erhalten wollen. Dagegen hoffen die "Grünen", die Marsoberfläche bald so weit terraformt zu haben, daß sich Menschen ohne Schutzanzug und - maske auf ihm aufhalten können. Am Ende der Trilogie gehen die Marsmenschen an ein dunkelblaues Meer unter malvenfarbenen Himmel baden. Der "Weiße Mars" dagegen steht für den Erhalt des Mars um seiner selbst willen wie die weiße Antarktis.

In beiden Büchern steht der Mars für den Versuch, ein anderes als das auf der Erde vorherrschende Wirtschaftssystem und andere Lebensweisen zu probieren. Bei beiden müssen sich diese Pläne damit auseinander setzen, daß eine immer mehr in Katastrophen und Verelendung rutschende Erde den Mars nicht in Ruhe lassen will, sondern nach seinen Ressourcen strebt und einen großen Teil der Bevölkerung dorthin umsiedeln will. Die drei Bände von Robinson kosten diesen Konflikt voll aus.

Im "weißen Mars" wenden die Autoren einen Kunstgriff an: Indem sie durch einen Wirtschaftscrash auf der Erde die Raumfahrtverbindung zum Mars einstellen lassen, gewinnen die Menschen dort einen Freiraum zum Experimentieren. Sie entdecken die Symbiose von Flechten und Pilzen als Beispiel für fruchtbare Kooperationen. Dementsprechend gestalten sie Leben und Wirtschaft um. Alte Denkbarrieren werden beseitigt - dazu gehören falsche historische Denkweisen, der Anthropozentrismus, der fehlerhaften Veröffentlichung von Meinungen und der Kluft zwischen Arm und Reich. An dieser Stelle werden die Darstellungen von Aldiss und Penrose ziemlich plakativ. Sie versuchen, eine umfassende Philosophie der Problemlage auf der Erde zu erstellen und auf dem Mars die Alternative dazu denkbar zu machen. Inhaltlich streifen ihre Darstellungen zwar Symptome, zielen aber nicht weit genug in Richtung der kapitalistischen wertförmigen Vergesellschaftung als struktureller Grundlage der katastrophalen Entwicklungen. In der Darstellung leidet der Unterhaltungswert und auch die Lebendigkeit des Geschehens unter dem etwas belehrendem Stil. Interessanter sind hier schon die Einfügungen von Hochenergie-Kosmologie und die Tatsache, daß die Menschen wohl doch nicht die ersten Lebewesen auf dem Mars sind...

Dies sind jedoch nur begleitende Aspekte, das Hauptaugenmerk der Autoren liegt nicht im Faszinosum der unbekannten fernen Welten - sondern dessen, was in uns selbst steckt und sich entwickelt. "Wir müssen unser Verhalten verbessern, ehe wir zu den Sternen vorstoßen".

Auch einige der Ersten Hundert Siedler auf dem "Roten Mars" fühlen sich erneuert: "Wir waren auf uns allein gestellt und wurden so zu fundamental anderen Wesen". Aber im Alltag vergehen solche Hoffnungen schnell. Alltag heißt Terraforming, bedeutet die Ankunft tausender weiterer Siedler und Auseinandersetzungen unter den Ersten Hundert über das, was sie tun können. Eine fast unendliche Zahl von Möglichkeiten - aber jede Auswahl setzt Realitäten, die zwar einigen Interessen entsprechen - anderen dagegen entgegenstehen. Solche Streite können tödlich enden - der wohl Visionärste der Ersten Hundert stirbt als erster durch Mord. Und die Möglichkeiten werden zusätzlich dadurch eingeschränkt, daß auch auf dem Mars die Politik der auf der Erde herrschenden Transnationalen Konzerne durchsickert und sich nach und nach gegen internationale Institutionen und das eigenständige Bestreben der Marsianer durchsetzt. Die Ressourcen des Mars sollen der Erde ebenso aus ihren Schwierigkeiten helfen wie die massive Übersiedlung von weiteren Millionen Menschen von der "vollen Erde" auf den Mars. Die Herrschaft der Transnationalen ist erst subtil - viele wollen sie gar nicht wahrhaben. Die Lage spitzt sich aber zu, als einige in den Untergrund gegangene Gruppen immer wieder Sabotageakte durchführen. Schließlich - so wird später bekannt - provozieren die Herrschenden bewusst eine größere Revolte, die ihnen hilft, ihre Herrschaft durch militärische Besetzung durchzusetzen. Am Ende des ersten Bandes der Trilogie sehen wir den Mars im Knebelgriff der transnationalen Konzerne.

Als der zweite Band in seiner Geschichte einsetzt, hat sich der Widerstand im Untergrund eingerichtet, eine neue Generation der auf dem Mars Geborenen wächst heran. Die Transnationalen sind inzwischen Metanationale geworden und haben sich die Wirtschaft ganzer Länder angeeignet. Der Mars wird ihr neues Expandierfeld. Millionen von Menschen werden ausgesiedelt, massives Terraforming erwärmt die Atmosphäre - vergiftet sie aber gleichzeitig. Der Widerstand ist so marginal, daß er lange in Ruhe gelassen wird. Weil einer der in den Untergrund gegangenen Ersten Hundert sich jedoch auf der Oberfläche wieder eingeschmuggelt hat, entdeckt wird und durch Folter Informationen preisgeben muß, werden nach und nach Rückzugsorte des Widerstands entdeckt und ausgehoben. Viele der Untergrundgruppen wollen sofort zurückschlagen. Die Älteren halten sie zurück: Sie wissen, daß der Widerstand dann sofort brutal zurückgeschlagen und vernichtet würde. Geduld wird zur revolutionärsten Tugend. Die gemeinsame Gefährdung bringt die verschiedenen Widerstandsgruppen aber zusammen: Sie treffen sich, um über ihre Vorstellungen eines Freien Mars zu diskutieren. Es entsteht so etwas wie eine Verfassung - nicht aus der Feder einiger weniger kluger Menschen, sondern im fast unendlichen, anstrengenden Palaver und mit Hilfe geschickter Diplomatie. Ein wichtiger Punkt der Verfassung ist: "Keine Kultur und Gruppe sollte imstande sein, den Rest zu beherrschen". Auch die Ersten Hundert verwerfen den kurzfristig aufgekommenen Plan, sie sollten die Macht übernehmen. Es dauert sowieso noch Jahrzehnte, ehe sich wieder etwas tut (die Menschen haben inzwischen eine Langlebigkeitsbehandlung, so daß wir mit bekannten Protagonisten durch die Jahrzehnte gehen können).

Was jetzt folgt, ist nicht nur für den Mars geschrieben. Es behandelt jene Fragen, die dem politischen Widerstand auf der Erde zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf den Nägeln brennen. Wann ist der geeignete Zeitpunkt zum Zuschlagen? Was können wir tun? Was dürfen wir nicht tun, um unsere Ziele nicht selbst zu verraten? Und schließlich: Wir dürfen nicht verbittern, wir kämpfen für Freude und Glück - das können nur freuderfüllte Menschen, trotz alledem!

Als auf der Erde die sowieso schon katastrophal gewordene Situation durch das Abbrechen der halben Antarktis und das Ansteigen des Meeresspiegels um 6 Meter außer Kontrolle gerät, geht es los. Das wichtigste Element: Die Bevölkerung des Mars stellt sich hinter die Widerständler. "Volksmassen in den Straßen sind ungefähr das einzigste, was Regierungen angst macht". Bei der Auseinandersetzung mit den Truppen der Metanationalen werden aus Versehen beinah 200 000 Menschen in einer Kuppel ersäuft...

Aber schließlich ist der Sieg errungen. Der Mars hat die Herrschaft der irdischen Metanationalen abgeschüttelt. Dieses Märchen jedoch endet nicht mit der Hochzeit. Der ganze dritte Band der Trilogie beschäftigt sich mit der Frage, was mit der errungenen Macht jetzt geschehen soll. Soll sich der Mars gegenüber der Erde isolieren? Oder sind die Menschen auf dem Mars weiter mit dafür verantwortlich, was auf der Erde geschieht? Sollen sie der Erde helfen, ihre Probleme zu lösen - auch indem sie weiter Siedler aufnehmen? Die vor Jahrzehnten diskutierte Verfassung ist noch zu abstrakt, solche Fragen klären zu können. Anhand der brennenden Fragen entwickeln sich Institutionen und ein kompliziertes Machtgeflecht. Einige der Mächtigen leiden selbst darunter, daß sie Entscheidungen auf eine Weise treffen müssen, die sie eigentlich nicht verantworten wollen. Aber es ist auch noch nicht entschieden, daß sich nur wieder eine Form von Herrschaft entwickelt. Es gibt keine perfekte "Friede-Freude-Eierkuchen"-Lösung, sondern immer wieder ein ständiges Aushandeln von Interessen innerhalb der Möglichkeiten. Am genialsten sind Lösungen, bei welchen die Möglichkeiten so verändert werden, daß die Interessen einander nicht mehr entgegenstehen brauchen. Das Terraformen wird auf sanftere Formen umgestellt. Die Ökologie des Mars entwickelt sich schon fast selbstständig. Das Lebendige überzieht die niederen Bereiche des Mars - in höheren Höhen bleibt das rote Gestein als das

Dominierende erhalten. Früher streitende "Rote" und "Grüne" gehen gemeinsam spazieren. Die um 220 Jahre alten Ersten Hundert bekommen Probleme mit ihrem Gedächtnis. Was sie erlebt haben, übersteigt das bisher Menschenmögliche. Die ersten sterben und lassen die Übriggebliebenen Bilanz ziehen. Nur diese Alten fühlen genau, was sich geändert hat, während der ursprünglich rote Mars grün und schließlich blau wurde. Die Kinder planschen im blauen Wasser - wie heute wir in den Meeren der Erde. Die neuen Abenteuer spielen sich inzwischen auf den anderen Planeten und Planetoiden und bei der ersten Expedition zu einem anderen Sonnensystem ab...

Also, ich mag ja kaum jemandem empfehlen, so viel zu lesen. Aber die Mars-Bücher sind auf jeden Fall besser als die vielen geistig schmalbrüstigen Fantasy-Serien. Sie haben einen beträchtlichen Unterhaltungswert. Wer gleichzeitig den Anspruch hat, auf eine Reise in die eigenen Möglichkeiten der Zukunft zu gehen, ist hier am Besten bedient.

Willkommen auf dem Mars! Machen wir ihn bunt!

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