Was ist eine "konkrete Utopie"?

Utopien im weitesten Sinne sind alle rationell verfaßten Konzepte einer anderen (schöneren oder schlechteren) Welt (Pfetsch, S. 4). Aber auch die Darstellungen einer schlechteren Welt (Anti-Utopien, Dystopien) dienen wenigstens indirekt der Kritik des Vorhandenen oder Befürchteten - zielen also auf eine Verbesserung. In diesem Sinne sind Utopien "subjektiv gestaltete Zukunftsentwürfe, die im Ganzen oder im Detail eine wünschbare zukünftige Gesellschaft skizzieren" (Schwendter, S. 19). Sie müssen von uns gegen den Zeitgeist der Horrorszenarien neu gefunden werden. Utopische Ziele sind vor allem jene, die im Augenblick nicht zu erreichen sind, weil sie den gegebenen Trends nicht entsprechen, sondern entgegenstehen.

Es geht uns aber nicht um die nicht zu verwirklichenden "Utopismen". Um auch noch nicht verwirklichte, aber durchaus mögliche Zukunftsvorstellungen als Utopien bezeichnen zu können, verwendete Ernst Bloch die Bezeichnung "konkrete Utopie". Das Wort "konkret" bedeutet nicht, dass sie schon real geworden, realisiert worden ist - sondern dass die konkreten Voraussetzungen für ihre Verwirklichung gegeben sind, dass ihre Entstehung kein bloßes Hirngespinst ist. Konkrete Utopien beziehen sich auf die Tendenzen und Latenzen in der geschichtlichen Bewegung selbst. "Prozeßhaft-konkrete Utopie ist in den beiden Grundelementen der marxistisch erkannten Wirklichkeit: in ihrer Tendenz, als der Spannung des verhindert Fälligen, in ihrer Latenz, als dem Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt." (Bloch, S. 727). In diesem Sinne ist auch der Realismus selbst eine Einheit von Hoffnung und Prozeßkenntnis (Bloch, S. 727).

Utopien sind also in diesem Sinne keine unerfüllbaren Wunschträume, sondern als "konkrete Utopie", bzw. "Realutopie" können sie bei entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Konstellationen Wirklichkeit werden (Schwendter, S. 20). Und ohne sie, "ohne Überlegungen, wie es denn anders als bisher sein sollte, entstehen keine Handlungsmotivationen" (Behrend, S. 23) für die Bedingungsveränderung...

Wünsche für die zukünftige Gesellschaft, die herrschaftsfrei strukturiert sein soll, in der Emanzipation auf Grundlage sozialer Sicherheit für alle möglich sein soll und die ökologisch verträgliche Wirtschaftsweisen auf Grundlage von Allianztechnologien verwirklicht, sterben nicht ab, sondern artikulieren sich immer wieder neu. Gegenwärtig treffen sie auf eine Situation, in der die Erfüllung dieser Wünsche einerseits drängend erforderlich wird angesichts der verheerenden ökologischen und sozialen Desaster des Spätkapitalismus andererseits aber auf Grundlage der erzeugten produktiven Kräfte der Menschheit auch immer stärker im Horizont des Möglichen erscheint.


Literatur:
Behrend, Hanna, Rückblick aus dem Jahr 2000 - Was haben Gesellschaftsutopien uns gebracht?, Berlin 1997.
Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main, 198.5
Pfetsch, F.R., Politische Utopie, oder : Die Aktualität des Möglichkeitsdenkens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 52-53-90, 1990. Schwendter, R., Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff, Berlin-Amsterdam 1994.

(Mehr siehe unter http://www.thur.de/philo/ku1.htm)

siehe auch: Die konkrete Utopie einer selbstentfaltungsbasierten Wirtschaft

 

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