Rezension von Annette Schlemm:

Stephen Baxter: Zeitschiffe Zeitschiffe

Wilhelm Heyne Verlag München 2002
 
Ich weiß nicht, ob es Zufall ist, ob ich es aufmerksamer registriere, oder ob immer mehr Science-Fiction-Romane tatsächlich nicht mehr nur eine andere mögliche Welt in fremden Räumen oder Zeiten beschreiben, sondern direkt darauf verweisen, dass viele verschiedene mögliche Welten gleichberechtigt existieren.
Und sie existieren vielleicht nicht nur in unseren Köpfen, als Blaupausen möglicher zukünftig realer Zustände. Vielleicht bilden sich bei jedem Ereignis, bei dem eine Entscheidung erfolgt, zwei reale neue Universen.
Wir legen einen Ball auf die Spitze eines Berges und warten ab, in welche Richtung er herunter rollt. Er kann in viele Richtungen rollen. Ich befinde mich in der Welt, in der sie nach rechts hinten rollt.  
  Aber in einem anderen Universum ist sie nach links vorn gerollt und in einem anderen nach rechts vorn usw. usv. Diese Vorstellung beruht auf einer – an sich sehr streitbaren – Interpretation der Unbestimmtheitsbeziehung in der Quantentheorie (nach Everett) und wird "Multiple-Welten-Theorem" (Baxter, S. 303) genannt.

Mit diesem Konzept erweitert Stephen Baxter die bekannte Geschichte von H.G. Wells Zeitreise. Der Zeitreisende, der in der Zukunft die Trennung der Menschen in Morlocks und Elois erlebt hatte, will wieder zurück in die Zukunft, um als Beweise Fotos zu machen. Aber er landet nicht in der erwarteten Zukunft – die Zukunft ist anders, als er erwartet und wir von Wells kennen. Er erwartet bösartige Morlocks und schlägt auf sie ein, als er wieder welche an seiner Zeitmaschine sieht. Dass er dabei nur ein harmlos-neugieriges Kind einer hochentwickelten Zivilisation Morlock-Zivilisation schwer verletzt, bringt ihm nicht gerade einen Bonus in dieser neuen neuen Welt. Ausgehend von den sozialen Differenzierungen, die Wells als Ausgangspunkt nahm, hat sich in einer anderen Zukunftswelt eine andere zukünftige Geschichte zugetragen, deren Ergebnisse der Zeitreisende nun kennen lernt. Baxter schließt schlüssig an Wells Zeitreisekonzept an und kann nun jedoch nähere Einzelheiten über die Funktionsweise der Zeitmaschine einbringen und neue wunderbare Welten ausdenken. Die neuen Morlocks leben auf einer Sphäre, die sie um die Sonne errichtet haben. Dadurch können sie andere gesellschaftliche Strukturen etablieren.

  • "Aber was geschieht, wenn ... Entscheidungen zu Konflikten führen?"
  • "Wir haben Platz.... Du darfst diese Tatsache nicht vergessen, du denkst nämlich nach wie vor nur in planetarischen Dimensionen. Es steht jedem Dissidenten frei, zu gehen, und woanders ein anderes System zu etablieren..." Diese Morlock-"Nationen" waren flüchtige Gebilde, deren Angehörige nach Lust und Laune kamen und gingen... (S. 119)
Auch für Kriege konnte es unter diesen Umständen gar keine Anlässe geben. Allerdings behagen unserem Zeitreisenden die Fortpflanzungsmethoden der Morlocks dieser Zukunft überhaupt nicht... Er überrumpelt seinen Aufpasser und flüchtet mit seiner Zeitmaschine – der Aufpasser allerdings kommt mit. Daß sich die Zukunft verändert, hängt nicht nur damit zusammen, dass der Zeitreise durch seine Berichte seine Gegenwart und damit deren Zukunft veränderte, sondern auch mit technischen Eigenheiten der Zeitmaschine. Die Zeitmaschine erweist sich als "Geschichtsmaschine" (S. 128)!

Da die Zeitmaschine keinen geraden Weg kennt, wird das weitere Leben der beiden eine Odyssee. Der Zeitreisende besucht sein früheres Ich, wird mit den entsprechenden Paradoxien konfrontiert, die sich aber durch das Multiple-Welten-Konzept auflösen; landet im unbeendeten 1. Weltkrieg 20. Jahrhunderts, trifft auf Kurt Gödel, und landet schließlich im Paläozän. Er erlebt, wie andere Zeitreisende hier (d.h. damals) eine andere Menschheitszivilisation gründen und erlebt deren Entwicklung im Zeitraffer mit. Was ist alles möglich! Eine um ein Vielfaches schnellere Evolution, die noch vor seinem 19. Jahrhundert zum Auszug der Menschheit aus ihrer "Wiege Erde" führt – aber eine vereiste Erdkugel zurück lässt. Vielleicht ist auch der Mars inzwischen grün – die Erde jedoch wurde weiß. Was schließlich aus den Menschen wird, können wir uns nur noch am äußersten Ende unserer Vorstellungsfähigkeit verdeutlichen... Baxter erweist sich wiederum als genialer Prophet des gerade noch denkbar-Möglichen. Auch die Grenzen von Raum und Zeit werden durchbrochen. Obwohl Baxter uns und den Zeitreisenden nicht in diesem fremden Nicht-mehr-Welten zurücklässt, scheint für ihn zu gelten, was er den Zeitreisenden über einen Freund sagen lässt:

Er schien die Dinge in ihrem Gesamtzusammenhang zu sehen – über das Hier und Jetzt hinaus, das uns alle so beschäftigt- - und das schnell: die Trends, die Tiefenströmungen, die uns mit der Vergangenheit und Zukunft verknüpfen. Er musste wohl die Kleinheit der Menschen vor dem großen Hintergrund der Evolution begriffen haben – und ich glaube, dass er deswegen nur wenig Geduld mit der Welt hatte, an die er gefesselt war, mit den endlosen, langsamen gesellschaftlichen Entwicklungen – und sogar mit seiner eigenen, schwachen Existenz. Er schien ein Fremder in seiner eigenen Zeit zu sein..." (S. 688)

 

Gelesen:

Bildung:

In den Kindertagesstätten... "wurde den Kindern zusätzlich zu den Grundformen zivilisierten Verhaltens eine essentielle Fähigkeit vermittelt: Lernfähigkeit. Wie wenn ein Schuljunge des neunzehnten Jahrhunderts –anstatt sich eine Menge Unfug über Griechisch und Latein und obskure geometrische Theoreme in seinen armen Schädel zu prügeln – gelernt hätte, sich zu konzentrieren, Bibliotheken zu benutzen, sich Wissen anzueignen – und vor allem, zu denken. Gemäß dieser Philosophie erfolgte die Aneignung von spezifischem Wissen in Abhängigkeit von den anstehenden Aufgaben und den Neigungen des Individuums." (S. 131)

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