Rainer Thiel Schülerstreik in Storkow,

beim trafo verlag dr. wolfgang weist Berlin, www.trafoberlin.de

bestellbar unter ISBN 3-89626-066-9

"Zu Kaisers Zeiten gab es in Deutschland etwa 30 000 Autos (PKW). Im heutigen Deutschland gibt es etwa 30 Millionen Autos (PKW). Also etwa tausend Mal so viele wie beim Kaiser. Da hat sich viel verändert.
...
Zu Kaisers Zeiten wurden in eine Schulklasse etwa 30 Schüler gestopft. Auch im heutigen Deutschland sind die Schulklassen mit circa dreißig Schülern bestückt, mal weniger, mal mehr. Da hat sich nichts verändert. Nichts."

"Ihr behauptet, in die Infrastruktur der neuen Bundesländer müssten noch 300 Milliarden investiert werden. Mag sein. Aber das Schulsystem zählt ihr nicht zur Infrastruktur. Und da behauptet ihr, etwas von Wirtschaft und Menschenwürde zu verstehen? "

Der Anlaß:
"Am ersten Schultag, am 4. September 2000, 7.30 Uhr, sitzen tatsächlich nur 39 Elftklässler beisammen, nicht vierzig. Die Schulrätin zählt. Eine Schülerin fehlt, eine. Ist sie krank? Warum sie fehlt, das weiß zu dieser frühen Stunde niemand. Sie steht sogar noch auf der Liste, einer rechtsgültigen Urkunde.

Die Schulrätin verfügt: In Storkow gibt es nicht zwei elfte Klassen. Es gibt auch nicht eine elfte Klasse. Es gibt überhaupt keine elfte Klasse in Storkow. "Ab Morgen gehen Sie in Beeskow oder Fürstenwalde oder anderswo zur Schule. Verlassen Sie sofort das Haus."

Nach zehn Minuten ist alles erledigt. Die beiden Klassenräume sind leergefegt, die Schüler weggeblasen. Wie anno '56 bei der SED, worüber wir noch sprechen werden."

"Der Liedermacher und Storkow-Bürger Kurt Demmler macht Musik und Text zu einem Hip-Hop. Die dritte von fünf Strophen lautet:

Remember, remember,
Es war der vierte September.
Jeder Schüler war gezählt.
Und siehe da - ein Schüler fehlt.
Die Elfte is nich mehr rentabel,
Wird kurzerhand zerschlagn wie Abel,
Und anschließend für alle Zeit
Wie Kain über die Welt zerstreut."

"Am 23. September wird der Spreebote mit seiner Schlagzeile zusammenfassen: "Kann man Schüler auf die Straße setzen? Ja, warum nicht, unsere Straßen sind gut.""

Danach verlängert sich die tägliche Fahrzeit für die Abiturwilligen erheblich:
"Wenn der Schüler direkt in Storkow wohnt, rechnet es sich im Durchschnitt so: Hin- und Rückfahrt von Storkow nach Fürstenwalde oder Beeskow kosten ihm täglich anderthalb Stunden, zusätzlich zum üblichen Schulweg. Das ist Zeit, die er als Verlust erleidet. Dieser Verlust pro Person ist mit der Zahl der betroffenen Lehrer und Schüler zu multiplizieren. Also ungefähr vierzig mal anderthalb gleich sechzig Stunden.
Täglich rund sechzig Stunden Menschen-Zeit. Und das drei Jahre lang. Raub an Freiheit. In drei Schuljahren sind das circa fünfundvierzigtausend Stunden. Wissen Sie, was darauf steht, wenn Bürgern so viele Stunden der Freiheit beraubt werden? "

"Die Schüler aller Klassen sind ratlos. Es gibt aufgeregte Gespräche. Im Raum steht allgemeinste, aber blinde Weisheit: Es hilft uns nur Protest. Als Scherz wird auch das Wort gebraucht: "Wir müßten streiken." Doch was heißt hier Streik?"

"Täglich vierzig mal neunzig Minuten Leben müssen gerettet werden, für Bildung statt für Gerangel im Omnibus und Diesel-Abgas. Frei nach Goethe: Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen. Und nur noch Streik kann Lebenszeit gewinnen. "

Streik heißt: Wir organisieren Unterricht selber.

Start des alternativen Unterrichts:
"Gegen 10 Uhr beginnt der Alternativ-Unterricht. Alle ehrenamtlichen Lehrer - Schüler der oberen Klassen, bald auch Studenten und Gewerbetreibende aus Storkow, sie alle beginnen ohne Vorbereitung mit der ungewohnten Arbeit. Gleichaltrige Schüler sollen zu Klassen zusammengefasst sein."
"Schüler sprechen miteinander über Bücher. Sie suchen auch Bücher bekannt zu machen, die ihnen oder ihren Eltern viel bedeutet haben. Ein Siebtklässler wird vom Streikkomitee zur Storkower Stadtbibliothek geschickt. Er ist mit Erlaubnis zum Verlassen der Schule ausgestattet und soll das Buch "Sterntagebücher" von Stanislaw Lem besorgen. Hunderttausende Menschen im Osten Deutschlands waren begeisterte Leser von Lem. Der Vater hatte das Buch einst in der Stadtbibliothek ausgeliehen. Doch siehe - das Buch ist während der Wende ausgesondert worden, obwohl der Pole Lem ein Weltbürger und kein Kommunist gewesen ist. Er hatte nur das Pech, in Leipzig verlegt worden zu sein. "

"Dann 1956. Da gab es in Storkow in der Abiturstufe zwanzig Schüler. Das war der armen DDR nicht zu teuer. Selbst 1958 gab es noch einmal eine Abiturstufe in Storkow. Doch wie die MOZ erinnert, auch der ORB, und viele Storkower wissen es, passierte 1956 etwas ganz anderes: Die Mehrheit der Schüler verhielt sich politisch mißliebig. Sie hatten im Westsender gehört, in Ungarn sei der berühmte Nationalspieler Ferencs Puskasz - Mittelstürmer der Fußball-Weltmeister-Mannschaft - beim Aufstand ums Leben gekommen. Was sich später als Ente erwies.
Politische Missliebigkeit gab es im Jahre 2000 nicht. Viele Schüler glauben heute an Demokratie. Doch der Effekt droht derselbe zu werden wie bei der SED.
1956 kam der Minister persönlich nach Storkow und löste die Klasse auf. Und kommentierte das gar zynisch. Man kann den Minister deshalb Zyniker nennen, Despot sowieso. Nur - hinter einer Schulrätin verschanzte er sich nicht. Der Minister hieß Fritz Lange. Er hielt sich noch kurze Zeit. Nachfolger wurde Professor Alfred Lemnitz, bekannt durch weitblickende Bildungspolitik, später gefeuert durch Familie Honecker. Doch das wäre ein anderes Thema."

"Ich steh am Rande neben Oehring. Das Mikro wird zu mir gereicht. So spreche ich ins Mikrofon: "Ich wohne in Bugk bei Storkow. Meine Enkel gehen in Berlin, in Dresden, in Flensburg zur Schule. Schon jetzt sind in Berlin die Klassen überfüllt, und trotzdem fällt viel Unterricht aus. Auch in Dresden. Was euch angetan wird, das kann in Berlin, in Sachsen und im Norden ähnlich geschehen. Das bahnt sich dort schon an. Ihr Storkower streitet auch für meine fünf Enkel. Deshalb bin ich bei Euch!"
"Jaaaaaaa!"
War mir schon jemals solcher Jubel zugefallen?"

"Nun zählen Storkower Schüler zu den ersten in Deutschland, die sich auf den Weg begeben, zu praktizieren, was Schülern zukommt. Und was Hochschulen pflegen müßten.

Schüler aller Bundesländer, vernetzt euch. Reißt Politikern eure Zukunft aus den Händen, die sie wie eine Zitrone quetschen."

[Homepage] [Gliederung]






- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 2001 - http://www.thur.de/philo/schuelerinnenstreik.htm -