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Schellings Verständnis von Natur

Schelling ist der naturverbundenste Philosoph der klassischen deutschen Philosophie. Zeitweise arbeitete er explizit eine Naturphilosophie aus. Er beschäftigte sich auch sehr intensiv mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und hatte Kontakt mit vielen Naturforschern. Zumindest wurden seine Ansichten von den Naturforschern eher als philosophischer Gedankenanreger genutzt als die von Hegel. Auch heute wird Schelling besonders deshalb "wiederentdeckt", weil er anscheinend eher weltanschauliche Antworten auf die ökologischen Fragen unserer Zeit geben kann als andere Philosophen und weil die neuesten Erkenntnisse aus dem Bereich der Selbstorganisationskonzepte seine oft spekulativen Gedanken zu bestätigen scheinen.

Zusammenzufassen, wie Schelling über die Natur dachte, ist gar nicht so einfach. Im Laufe verschiedener Etappen änderte er Ansichten mitunter radikal ins Gegenteil. Andererseits ziehen sich einige Gedankenlinien konsequent durch sein ganzes Leben hindurch.

Der Anfangsgrund Schellingscher Philosophie ist nicht die Erkenntnis der Natur. Seine Philosophie knüpft an Fichte an und beginnt mit dem Grundsatz: "Das A und O aller Philosophie ist die Freiheit". Aus diesem - allem vorausgesetzen, nicht zu begründendem - Grundsatz folgen die Prinzipien der Philosophie: Im Kern muß etwas stehen, was ebenso nur Freiheit beinhaltet. Das kann nur etwas, das von nichts anderem bestimmt oder auch nur bedingt wird. Das Un-Bedingte ist also das zentrale Prinzip seiner Philosophie. Das "Un-Bedingte" wird er auch das "Unendliche", das "Absolute", das "Identische" - und später "Gott" nennen.

In Weiterführung der Fichte´schen Gedanken, daß die Un-Bedingtheit nur im Subjekt enthalten ist, das nicht zum Objekt gemacht werden kann (dem ICH), sieht Schelling die Garantie für die Un-Bedingtheit in der Identität von Subjekt und Objekt. Dabei geht er über Fichte hinaus, weil bei Fichte die Identität von Subjekt und Objekt im Subjekt gesehen wird: "ICH bin Subjekt und Objekt." Es gibt zwar bei Fichte auch noch Dinge und Menschen außerhalb des individuellen ICH, deren ICH-heit ebenso zu achten und anzuerkennen ist. Aber hier kann er eine Brücke nur noch durch den "Glauben" schlagen und sie nicht systematisch aufzeigen.

Schelling bezieht systematisch eine andere Position: Die Identität von Subjekt und Objekt im ICH enthält die Forderung nach Freiheit für menschliche Wesen - aber gleichzeitig die, daß in der Natur das ICH hervorgebracht werde. Die ICH-heit der Natur ergibt sich bei Schelling aus seinem konzeptionellen Ansatz.

Der Naturbegriff Schellings entsteht also aus einer Analogie zum absoluten Ich in der Transzendentalphilosophie und meint eine zeitlose, absolute und unendliche Natur, nicht die in der Zeit existierende empirische Natur. Dieser Naturbegriff ist zu beachten, wenn im folgenden Näheres ausgesagt wird:

Diese ICH-heit wird dann ausgedrückt als Produktivität der Natur. Für die Naturphilosophie ist das absolute Produktive das erste Postulat (1799). Aus diesem Grundsatz ergeben sich alle weiteren Ausführungen zur Natur, wie sie bei Schelling heute so gern gefunden werden: Die Natur ist dynamisch, autark, selbstorganisiert usw.

Das "Seyn der Natur" besteht in einer "continuirlich-wirksame(n) Naturthätigkeit, die im Produkt erloschen ist". Alle Produkte also sind nur Ergebnis einer Hemmung dieser unendlichen Naturtätigkeit. Diese Hemmung wird von der unendlichen Tätigkeit selbst erzeugt, damit die Natur endlich darstellbar wird und nicht im Unendlichen "zerfließt".

Schelling beginnt hier, über die Dialektik von widersprüchlichen Bewegungen nachzudenken. Absolute Tätigkeit/Produktivität und unendliche Hemmung (für die die Kantsche Repulsiv- und Attraktivkraft lediglich mechanische Ausdrücke sind), heben sich in jedem Punkt so auf, daß die Natur nicht zur Ruhe kommt, sondern die Bewegung weitergeht.

1800 arbeitet Schelling die Transzendentalphilosophie mit dem ICH als Zentrum und die Naturphilosophie mit der produktiven, unendlichen Natur im Mittelpunkt noch parallel nebeneinander aus. Er betont, daß die empirische Naturwissenschaft Physik die Produktivität der Natur zu wenig beachtet, daß sie die ICH-heit in der Natur nicht sehe und deshalb eine speculative Physik notwendig sei, die dies beachtet.

Im Unterschied zur Systematik in der Transzendentalphilosophie gibt es in der Natur eine ursprüngliche Duplicität. Deshalb ist Natur als Subjekt Synthesis der jeweils entgegengesetzten Tendenzen und als Objekt eine Evolution eines Urproduktes.

Schelling konstruiert dann ein Schema des dynamischen Prozesses, in dem er die Effekte des Magnetismus, der Elektrizität und der chemischen Prozesse als Potenzen einer einheitlichen Naturevolution ableitet. Hier wirkt der Schematismus dann oft erzwungen.

Auf diese Epoche bis 1800 bezieht man sich heute vorwiegend, wenn Schellings Denkweise für die modernen Erkenntnisse und Probleme neu ausgewertet wird.

Allerdings wird dabei oft die oben schon erwähnte Trennung von Naturbegriffen außer Acht gelassen: Die von uns so bewunderte Autarkie und Selbstorganisation der Natur kommt bei Schelling nur der unendlichen, absolut produktiven, außer aller Zeit sich befindenden Natur zu - der empirischen, endlichen, zeitlichen nur, insofern sie über ihre Seele Anteil an dem Unendlichen hat..

Die empirische Natur bezieht ihre Lebendigkeit immer nur aus der Verbindung (Identität) mit dem Unendlichen, Außerzeitlichen, Absoluten.

Die empirische Natur ist nicht aus sich heraus kreativ, sondern durch ihre Verbindung mit dem Unendlichen, Absoluten, das deshalb vorausgesetzt werden muß. Das wiederum spricht gegen eine SELBSTorganisation, wie wir sie in der modernen Naturwissenschaft ja gerade auch in der empirischen Natur untersuchen!

Schon gegen 1804 sind die beiden Bereiche: das Unendliche und das Endliche nicht mehr gleichberechtigt wichtig (was sie in der Identität eigentlich sein müßten). Die Aufgabe der Philosophie wird von Schelling nicht mehr, wie früher, in der Ableitung des Endlichen aus dem Unendlichen gesehen, sondern in der absoluten Erkenntnis, die durch das Anschauen erreicht wird. Es gibt dann direkte Verweise von ihm darauf, daß das Zeitliche keine Anstrengung, keine Bemühung verdient:

"Was bestehen soll, besteht, und was vergehen soll, vergeht; an beidem kann nichts verhindert oder hinzugethan werden... Wozu also alle Sorgen und das unruhige Streben? Was geschehen soll, geschieht doch." (1894).

Ökologie:

Egal, woher die Lebendigkeit im Denksystem Schellings kommt - sie wird vorausgesetzt und daher ergeben sich für uns interessante ökologische Ansichten.

Das reale All ist die Einheit von Natura naturans (Gott, absolutes All) und Natura naturata (1804). Keiner ist etwas nur für sich, sondern nur im Ganzen. Die Materie ist der allgemeine Leib der Dinge und vereint das Leidende und das Tätige.

Daraus ergibt sich wiederum die Kritik der einseitigen Naturwissenschaft:

"Der Physiker dagegen, welcher die Ordnung des Universums und der Natur aus eben diesen bloß passiven Bestimmungen, aus Größe, Figur, Lage der Theile usw. begreifen will, würde die Natur, das unendliche Leben selbst in Tod verwandeln."

Schellings Weltanschauung enthält keinen Dualismus von Natur und Subjekt (wie noch bei Kant, wo der Mensch Bürger zweier Welten ist), sondern als verschiedene Stufen von Tätigkeit (unbewußt, bewußt).

Die von Schelling betonte Einheit von Mensch und Natur geht aber nicht zu Lasten der menschlichen Autonomie, sondern begründet und legitimiert sie gerade damit, daß auch die Natur selbst autonom ist.

1809 kritisiert er bereits die Überheblichkeit der Menschen, die aus der natürlichen Einheit ausbrechen:

"Hieraus entsteht der Hunger nach Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß er creatürlich zu werden strebt, eben indem er das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt."

Trotzdem ist Schelling kein Verfechter jeglicher Einheitlichkeit und Harmonie. Nicht die Trennung der Kräfte an sich ist Disharmonie, sondern die falsche Einheit derselben (kein einzelner Ton macht die Disharmonie aus).

1810 konstatiert Schelling, daß der Mensch seine Bestimmung nicht erfüllt hat. Er hätte die Natur dem Geist unterordnen müssen, herausgekommen ist das Gegenteil - die Natur, das Materielle begann über den Menschen zu herrschen, die Materie wurde ihm zu Gott. Die Schuld daran liegt in der Freiheit der Menschen begründet.

Evolution:

Eine wichtige Einschränkung des schellingschen Naturdenkens ist allerdings bereits 1800 vorhanden: Schelling anerkennt für die (reale) Natur keine wirkliche Evolution, in der etwas geschehen könnte, was nicht schon in dem außerzeitlich vorhandenen Ideal im Absoluten vorherbestimmt ist. Das Streben nach Identität bei Schelling führt zu einer Statik (das Ideale ist immer schon da, nur nicht vollständig realisiert).

Der Mensch "hat nur deswegen Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus berechnen läßt." Aber das Ziel der menschlichen Geschichte ist auf jeden Fall die Annäherung an das Absolute, das absolute ICH - das außer aller Zeit für alle Zeiten schon festgelegt ist, also auch keine Freiheiten mehr läßt.

1801 betont Schelling, daß es eine Entstehung in der Zeit überhaupt nicht gäbe. Alle Potenzen sind absolut gleichzeitig.

Während Schelling 1800 noch eine Stufenfolge der Sukzession in Richtung steigender Intelligenz (Pflanze Tier...) sieht, konstatiert er 1804 nur noch eine "allmähliche Verschlechterung der Erde,... herabgesunkene Cultur...". Der Begriff "Natur" ist an dieser Stelle auch für ihn nur eine "allgemeine Sphäre des Abfalls".

Das aber ist für Schelling kein großes Problem. All dies ereignet sich ja nur auf der Ebene des Endlichen, Empirischen. "In Ansehung der Natur (jetzt der anderen Natur: der unendlichen, absoluten) selbst oder des Ganzen" kann nichts verändert werden: "Bei dem Wechsel des einzelnen bleibt das Ganze sich stets gleich.".

1806 nennt er das Zeitleben gar ein "nichtiges Leben". "Eine Zeit und Zeiten, als solche, magst du wohl denken; sehen, wenn du siehst, nur die eine, immer ruhende Ewigkeit."

Hier wird auch deutlich, daß es für Schelling keineswegs gleichgültig ist, welcher Aspekt der Identität Unendliches-Außerzeitliches - Endliches, Zeitliches gerade betrachtet wird. Im Denken erkennen wir nur das Endliche - aber die Anschauung sehen wir das Unendliche, auf welches die Philosophie bei Schelling zielt, welches dominiert und primär ist.

Erinnern wir uns an die Unterscheidung der Naturbegriffe, so wird jetzt klar, daß die Entwicklung der endlichen, empirischen Dinge für Schelling nicht im Mittelpunkt steht, sondern das Schauen des Außerzeitlichen, Ruhenden, Absoluten. Schelling ist also kein guter geistiger Hintergrund für Evolutionsdenken, für Selbstorganisationsdenken.

Die jeweils die Ruhe hervorbringenden - sich in ihrer Gegensätzlichkeit in der Schwebe haltenden - Prinzipien sind bei Schelling zeitweise völlig unterschiedliche:

Gegen 1806 standen sich Reales in Form von in sich konzentrierendem Egoismus und ausfließendem ideales Streben nach Gemeinschaft und Liebe gegenüber; 1809 war das Reale zur expandierenden Sucht nach Bewegtheit geworden, während dem das Ideale als Vernunft- und Ordnungsprinzip gegenübersteht.

  Reales Ideales
ab 1806

(Statik herrscht vor)

kontrahierendes Prinzip

Macht der Konzentration In-Dividuation

(gegen das Zerfließen im Ganzen)

Grund der Eigenexistenz

Gefahr: Egoismus

Zerstörung...

expandierendes Prinzip

Gemeinschaft/ Liebe

ab 1827

Dynamik

expandierendes Prinzip

Drang nach Bewegtheit, Sucht

ir-rationale Macht

Rehabilitation der Vitalität

(im Christentum)

kontrahierendes Prinzip

Vernunft, Grenze, Maß, Ordnung und Form

Bei Schelling ist es selbstverständlich, daß kein Prinzip für sich etwas Schlechtes darstellt, daß alle Aspekte vorhanden sein müssen. Erst das Übergewicht eines der Prinzipien gefährdet den Bestand der Welt. Mit dieser einheitlichen Sichtweise lassen sich deshalb heute alle einseitigen Weltanschauungen kritisieren, die jeweils einen Pol zugunsten des anderen völlig unterdrücken wollen (Anti-Rationalismus, Gemeinschaft ohne Individualität).

1809 muß sich Schelling in der Freiheitsschrift mit Vorwürfen, er sei Pantheist, herumschlagen. Hier entwickelt er wieder eine Dynamik, weil er die Widersprüchlichkeit neu herleiten muß. Um nicht Pantheist zu sein, muß er Unterschiede setzen in Gott und den Grund Gottes (mehr hier nicht zu diesen Begriffen) - und diese erzeugen aus sich heraus wieder Dynamiken. Diese Bewegungen münden in seine Pläne, die "Weltalter" übergreifend zu erfassen, was ihm aber nicht mehr abschließend gelang.

Trotzdem bleibt die Einschränkung immer zu beachten, daß Schelling kein Werden in der Zeit als wesentlich annimmt, sondern auch später ist es nur ewiges Vergangenes (im Außerzeitlichen), das verschiedene Momente des göttlichen Seins voneinander abheben läßt.

Schelling läßt zwar viele moderne Motive anklingen, aber es ist zu beachten:
Er argumentiert als Naturphilosoph, spricht über die natura naturans - nicht in einzelwissenschaftlichen/ontologischen Sinn über die natura naturata.
Das bedeutet:

  • keine wirkliche Evolution ins Offene, sondern alles ist im außerzeitlichen Absoluten festgelegt,
  • Interesse an realer Natur nur, insoweit sie das Unendliche, das Absolute in sich enthält,
  • keine Unterscheidung von wesentlichen Unterschieden, sondern nur Unterscheidung von Potenzen.

Diese Beschränkungen wirken sich systematisch auf Schlußfolgerungen aus:

  • keine wirkliche Entwicklung von Neuem (mit neuem Wesen),
  • keine ökologische Problemsicht auf die Einheit unterschiedlicher Wesenheiten,
  • keine wirkliche SELBSTorganisation, sondern Hinzuziehung eines Absoluten als Quelle und Ziel der Entwicklung.

8.9.96

siehe auch:




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