Leben als ständige Zukunftswerkstatt

Vortrag auf der Tagung "Von der Utopie zur sozialen Innovation", vom 27.Februar bis 1. März 1998 in der Akademie Frankenwarte in Würzburg,
von Carmen Ehms und Annette Schlemm

Knapp 10 Jahre nach der "Wende" in der DDR sind die meisten meiner Freundinnen und Freunde nicht mehr in einer Partei, einige in einigen Vereinen - aber kaum jemand ist im Nur-Privaten "hinterm Ofen" verschwunden.

Die 10 Jahre haben uns allen soziale Probleme bereitet - in meinem Freundeskreis haben fast alle die Arbeit mindestens einmal verloren. Wir haben aber auch neue Freiheiten kennengelernt, wie das Veröffentlichen von Informationsmaterialien. Wir hatten die Möglichkeiten, uns in politische Organisationen einzubringen - haben aber im allgemeinen eine zu feste Bindung gescheut, sobald wir merkten, daß wir zwar als Beitragszahler benötigt wurden, aber unsere Gedanken eigentlich niemanden interessierten. Wir selbst wollten auch allein auf unsere Freundschaft und unsere inhaltlichen Gemeinsamkeiten bauen können, statt auf eine Vereinssatzung. Auf diese Weise entstand ein lockerer Freundeskreis, den wir "Zukunftswerkstatt Jena" nennen. Die Methode der Zukunftswerkstatt begleitet uns seit 1990, wir verwenden sie unter uns und bringen ihre Inhalte und manchmal auch nur Elemente in unser Leben außerhalb des Freundeskreises, im Job, in anderen Vereinen usw. ein.

Da die Methode der Zukunftswerkstatt bekannt ist, möchte ich hier eine weitere interessante Methode als Rahmen nennen: die Szenariowerkstatt nach A.Frosch (Hamburg). In ihr werden Visionen und Trends, wünschbare Zukünfte und die "Logik der Sachzwänge" so in Beziehung gesetzt, daß wir Orientierungen für ein aktives Handeln erhalten können.

Prinzipiell wird ständig der Trend des Umfeldes mit dem eigenen Leitbild in Beziehung gesetzt und über Ziele, Strategien und Projekte/ Maßnahmen ist es möglich, das eigene Tun entsprechend der Vision in die Bewegung des Trends einzubringen.

 

Wir haben bei uns in der "Zukunftswerkstatt Jena" ständig Diskussionen über viele verschiedene Inhalte, die aus konkreten Erfahrungen erwachsen. Die Ergebnisse fließen dann wieder in das konkrete Leben ein. Obwohl wir keine Maßnahmepläne oder ähnliches aufstellen, können wir nach einigen Monaten immer feststellen, daß dadurch mehr erreicht wurde, als wenn jede/r allein über den Problemen sitzen geblieben wäre.

Intern haben wir keine formellen Strukturen, versuchen aber bewußt, die informellen Strukturen wahrzunehmen und einen akzeptablen Umgang damit zu lernen.

Wir können feststellen, daß unsere Nicht-Organisation als lebendiger Freundeskreis gut funktioniert. Damit ist aber keine gezielte Einwirkung nach außen zu erzielen, wie man sie i.a. als "politische Arbeit" bezweckt. Aus unserer speziellen Erfahrung aus der DDR hatten wir aber eine Abneigung gegen alle Aufgaben entwickelt, die anderen oder auch sich selbst eher von außen auferlegt wurden. Wir verfolgen als Grundprinzip die Selbstorganisation. Das bedeutet, auch das Risiko zu tragen, daß die Aktivitäten und das Interesse und das Engagement eines Tages erlahmen.

Aber ausgerechnet durch dieses Freilassen haben sich immer genau die Interessen artikulieren können, die nicht vorplanbar sind.

Da wir jeweils in vielen verschiedenen anderen Vereinen und Gruppen aktiv sind, ist unsere Gruppe dann eine Drehscheibe für Informationen und Motivationen. Es wird viel Literatur ausgetauscht und manchmal treffen wir uns auch zu speziellen Themengebieten.

Ein sehr "heißes" Thema war bei uns ständig die Kindererziehung. Erstens haben wir selbst Kinder und wir wollen ihnen ja die besten Startbedingungen geben, sich in dieser Welt positionieren zu können - möglichst in einem Sinne, wie wir es ihnen vorleben und wünschen (grob gesagt: "alternativ - emanzipativ - ökologisch"). Außerdem haben wir die Erfahrung gemacht, daß wir in unserem normalen Lebens-umfeld viele Menschen über das Thema der Zukunft ihrer Kinder motivieren können, prinzipiell über die Situation nachzudenken und tlw. Veränderungen in ihrem Leben zu initiieren.

Trotz einiger Verlockungen entschieden wir uns bisher alle, (noch?) nicht "auszusteigen", sondern unser "normales" Leben weiterzuleben - bei möglichst bewußter Gestaltung des eigenen Lebens. Ernährungsgewohnheiten haben sich bei vielen geändert, Car Sharing wird genutzt, wir nehmen Einfluß auf unser Wohnumfeld und bringen unsere Erfahrungen damit in anderen Elterngruppen, bei den Arbeitskollegen und in verschiedenen Vereinen ein. Für jede/n von uns wird es durch die Gruppe erleichtert, diese verschiedenen Schritte gehen zu können, ohne daß alle immer dasselbe machen müssen. Einige können konstatieren, daß sogar ihre neuen Jobs irgendwie dadurch beeinflußt werden, daß wir in den letzen Jahren viel voneinander gelernt haben (vom Umgang mit dem Computer bis hin zu pädagogischen Kompetenzen).

Insofern versuchen wir ständig, die Balance zwischen emanzipativ-ökologischer Vision und problematischen Umfeldrealitäten auszuhalten und uns gegenseitig dabei zu helfen, die Visionen und Leitbilder nicht aus dem Auge zu verlieren, sondern ständig neue Weg zu finden, die Trends selbst in diese Richtungen zu beeinflussen.

(Zur Methode der Szenariowerkstatt steht ein etwas ausführlicherer Text im Internet unter: http://www.thur.de/philo/aszu1.htm, zur Zukunftswerkstatt Jena: http://www.thur.de/philo/aszwj.htm)

 

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