Philosophie in der
DDR
(Frank Richter, Freiberg)
Abschnitt 7: Der Leninsche Materiebegriff
Über Lenins Rolle für die Philosophie im allgemeinen und die marxistische
Philosophie im besonderen ist schon vor der Wende debattiert worden. Es waren
polnische Philosophen, die wohl am konsequentesten die Einordnung Lenins als
eines Philosophen bestritten und ihn ausschließlich für einen Parteipolitiker
hielten. Nach der Wende hat der Wittenberger Pfarrer Schorlemmer Ähnliches
behauptet. Innerhalb der marxistisch-leninistischen Philosophie der DDR gab es
meines Wissens dieses Thema nicht, da die direkte Verknüpfung von Philosophie
und Politik, die man Lenin vorwerfen kann, ja positiv bewertet wurde. Im
Leipziger Erkenntnistheorie-Arbeitskreis um Dieter Wittich wurden Untersuchungen
zu Unterschieden in der philosophischen Position Lenins in den philosophischen
Heften zum einen und in „Materialismus und Empiriokritizismus" zum anderen
betrieben, wobei ihm in den Heften, bekannt auch als die Exzerpte und
Randglossen „Aus dem philosophischen Nachlaß", eine dialektischere Position
bescheinigt wurde. Das läßt sich unschwer daraus erklären, daß Lenin sich hier
insbesondere mit der Philosophie Hegels
beschäftigt. Im Verhältnis dazu nahm Lenin in „Materialismus und
Empiriokritizismus" doch eine ziemlich scharfe Position ein, die sich in einem
erkenntnistheoretischen Materialismus äußerte, der wenig Platz für Dialektik,
Toleranz und Kompromisse ließ.(1) Meine Haltung zu diesem Buch wurde mit der
Zeit ausgeprägt ambivalent: Fand ich vor allem in jungen Jahren die Klarheit und
Schärfe seiner Argumentation brillant und auf Grund der politischen Situation
damals, also in den ersten zehn Jahren des neuen Jahrhunderts, auch voll
berechtigt, und entsprach es damit also meinem jugendlichen Drang nach
eindeutigen Lösungen in politischen wie theoretischen Fragen, so tauchten doch
dann bald erste Zweifel an bestimmten philosophischen Thesen auf. Diese betrafen
die Leninsche Bestimmung von „Materie" und „Materialismus", seine
schroff-ablehnende Haltung zu allem, was wie Idealismus aussah und schließlich
seine offensichtliche Überschätzung der Leistungskraft des dialektischen
Materialismus. Mit Beginn der achtziger Jahre war ich dann bei einem
„pluralistischen" Verständnis von Philosophie angelangt, so daß ich mich
gelegentlich doch fragte, ob ich mich denn nun immer noch als
marxistisch-leninistischer Philosoph betrachten sollte. Aber man konnte ja
selbst solch einen bedenklichen Satz Lenins wie „Der Marxismus ist allmächtig,
weil er wahr ist" dialektisch deuten und ihn dem Satz Hegels „Was vernünftig
ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" zuordnen. Wie
bei Hegel darauf hingewiesen wird, daß nichts ewig und für immer wirklich und
vernünftig ist, so verstanden wohl die meisten Marxisten-Leninisten Lenins Satz
in eben dieser dialektischen Weise: Der Marxismus ist wahr dann und insofern,
als er sich neuen Anforderungen stellt und sie theoretisch zu erklären
gestattet. Gelingt ihm das nicht, so ist es auch mit seiner Allmacht nicht weit
her, wobei es für einen materialistischen Philosophen darüber hinaus sowieso
sehr problematisch ist, einen göttlichen Anspruch auf Allmacht auf eine
wissenschaftliche Theorie zu übertragen, die doch zumindest auch Momente
relativer Wahrheit enthält. Das ist also so ganz nebenbei auch eine Erklärung
dafür, wie es denkende Menschen mit bestimmten Sätzen unserer Klassikern
aushalten konnten: Man mußte sie ja nicht unbedingt aus ihrem Zusammenhang und
also auch aus ihrer Zeit herausreißen, und man konnte sie dialektisch, d.h. in
einem auf Relativität nicht verzichtenden Sinne, interpretieren. Lenin hat
es uns in dieser Hinsicht freilich oftmals schwer gemacht, und die nachfolgende
philosophische Entwicklung im Marxismus hat darunter sehr gelitten. Insofern
wäre auch die These wohl kaum haltbar, daß erst nach Lenin die Deformation
dialektisch-materialistischen Denkens begonnen habe. Ich möchte das am Beispiel
der Genesis des von Lenin formulierten und definierten Materiebegriffes
demonstrieren. Tatsächlich ist diese Definition so eng an den Namen Lenins
gebunden und als „Leninscher Materiebegriff" praktisch wie ein persönliches
Eigentum Lenins in die weitere Geschichte marxistischen Denkens, zumindest in
deren Philosophie, eingegangen, daß jede echte Diskussion dieser Definition und
der mit dieser verbundenen Materialismus-Theorie eine Auseinandersetzung über
die Person Lenins und dessen Rolle in der kommunistischen Arbeiterbewegung wie
in der Bewegung der Theorie der Arbeiterklasse bedeutet hätte. Davor hatten wohl
die meisten einfach Angst oder sie unterließen eine solche Kritik, weil sie
deren Folgen für die „Sache" (und wohl erst in zweiter Linie auch für die eigene
Person) als wahrscheinlich nicht förderlich hielten - selbst für den Fall, daß
Lenin hier nicht recht behielte. Mir machte das nicht ganz so viel aus; die
entscheidende Ursache dafür war wohl, daß ich ursprünglich gar nicht Philosophie
studiert hatte und deshalb auch nicht so stark im Glauben an die Unfehlbarkeit
der Klassiker erzogen worden war. In meinem Studium an der Bergakademie Freiberg
gab es solche Autoritätsgläubigkeit kaum, und wo sie irgendein
Fachrichtungsleiter, ob nun in der Gießereitechnik oder in der Metallkunde von
seinen Studenten verlangte, da fanden wir es ziemlich schnell heraus, wo auch
diese Herren ihre menschlichen und theoretischen Schwächen hatten. Insofern war
ich auf den Eintritt in die community der marxistischen Philosophen gut - oder
eben gar nicht - vorbereitet, wie man es nehmen will. Es machte mir sogar
ausgesprochen Spaß, da und dort wider den Stachel zu löcken und damit auch meine
eigenen Kollegen zu provozieren. Freilich half dabei der Bonus, den ich als
Naturwissenschaftler bzw. Techniker (unverdientermaßen) eigentlich bis zum
Schluß immer gehabt habe; was meine Kollegen im stillen Kämmerlein bei mancher
Gelegenheit über mich gesagt haben mögen, sei dahingestellt. Da aber wiederum
auch nicht alle Absolventen des Lehrstuhls von Hermann Ley Lust
und Kraft hatten, sich mit prinzipielleren Fragen marxistischen Philosophierens
zu befassen und dabei auch mal einen Streit mit dem toten Lenin zu riskieren -
über dessen Erbe freilich viele wachten, so blicke ich heute doch auch mit einer
gewissen Genugtuung auf meine persönliche Philosophiegeschichte zurück.
Diese ist also wesentlich durch Lenins Materiebegriff bestimmt worden. Wie
kam dieser dazu, Materie so zu definieren: „Die Materie ist eine philosophische
Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen
Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, photographiert,
abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert"(2)? Worin besteht die dieser
Definition dann zugesprochene neue Qualität und warum sollte eine solche
Bestimmung nicht veralten können? Um diese und andere Fragen zu beantworten,
muß man etwas in die Geschichte gehen, und zwar die der Arbeiterbewegung um die
Jahrhundertwende sowie in die der Physik; beide Strömungen trafen sich damals in
der Philosophie, und Lenin machte es sich zur Aufgabe, die dabei auftretenden
Probleme zu lösen. In der russischen Arbeiterbewegung gab es nach der im
wesentlichen gescheiterten Revolution von 1905 bis 1907 insbesondere unter den
Intellektuellen eine Krise - eine für nachrevolutionäre Zeiten eigentlich doch
ganz normale Angelegenheit. Problematisch war jedoch, daß diese Krisenstimmung
mit Angriffen gegen die marxistische, materialistische Natur- und
Gesellschaftstheorie verbunden war. Auch das war zunächst durchaus noch normal;
geht eine Revolution verloren, dann muß sich auch die dieser Revolution zugrunde
liegende Theorie verantworten. Gab es schon im letzten Drittel des
19.Jahrhunderts, insbesondere ausgelöst und vertreten durch die sogenannten
Volkstümler, die Frage, ob denn die im industriellen Westen Europas geborene
marxistische Theorie tatsächlich auch für das zurückgebliebene Rußland gelten
könne, so begannen nun auch solche Mitstreiter Lenins wie Bogdanow oder
Lunatscharski in dieser Angelegenheit zu schwanken. Solche „revisionistischen"
Tendenzen hatte es zuvor ja auch schon in Mittel- und Westeuropa, denken wir nur
an Bernstein, gegeben, und Lenin spürte die Gefahren der Spaltung der
Arbeiterbewegung auch für Rußland ganz deutlich. Die Argumentation
hinsichtlich einer wohl doch notwendigen Korrektur auch der philosophischen,
materialistischen Grundlagen eines zu präzisierenden theoretischen Konzeptes der
sozialistischen Revolution stützte sich dabei auf eine Autorität, die derjenigen
von Marx und Engels mindestens ebenbürtig schien - auf die Physik. Hier hatte
sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts geradezu Sensationelles getan. War,
als Max Planck sich für das Studium der Physik entschied, noch ziemlich unklar,
ob es auf diesem Felde überhaupt noch Neues in größeren Dimensionen zu entdecken
gab, so wendete sich das Blatt mit der Entdeckung und Beschreibung der
Elektronen, der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität. Die klassischen
physikalischen Begriffe von Materie bzw. Masse, Raum, Zeit, Kausalität begannen
ihre absolute Geltung zu verlieren; die Gesetze und Prinzipien der Mikrophysik
unterschieden sich von denen der klassischen Makrophysik so gewaltig, daß der
Satz von der „Krise der Physik" aufkam. Bekanntlich wurde diese Entwicklung
schnell durch Plancks Quantentheorie, Einsteins Relativitätstheorie und etwas
später durch die Quantenmechanik fortgesetzt, so daß von dieser Revolution auch
wieder der Makrobereich, jetzt der Kosmos insgesamt, betroffen war. „Die
Materie verschwindet, es bleiben nur die Gleichungen" war noch so ein Ausdruck,
der die Krise - natürlich war es eine Revolution - zu beschreiben suchte. Es
handelte sich um einen Paradigmenwechsel, wie das in der
Wissenschaftsentwicklung eben öfters geschieht. Aber hier traten doch
Komplikationen auf, wie sie nicht in jeder wissenschaftlichen Revolution
vorkommen. Die Physik hatte schon lange Zeit, seit Galilei und Newton, nicht nur
für die anderen Wissenschaften als Muster von Exaktheit und Gültigkeit in der
realen Welt gegolten, sondern ihre wichtigsten Begriff hatten geradezu
philosophische Allgemeinheit und Bedeutung angenommen. Das betraf insbesondere
den Materiebegriff, der physikalisch als Masse, als Körper, als Stoff näher
bestimmt werden konnte, und der allgemein als Träger aller speziellen
Eigenschaften, die in den Wissenschaften erforscht werden, galt. Es war die
Materie, die sich bewegte, in Raum und Zeit existierte, verschiedene
Energieniveaus aufwies und innerhalb deren sich in Stufenform die höheren,
komplexeren Bewegungs- und Strukturformen der Welt aufbauten - chemische,
biologische, geologische, soziale Strukturen und Prozesse. Jetzt auf einmal
begannen die Unterschiede von Materie und Energie, von Materie und Bewegung zu
verschwimmen, ja - die Materie begann sich selbst aufzulösen, zu verschwinden;
die herkömmlichen Begriffe von räumlicher Erfüllung, von Undurchdringlichkeit,
Trägheit oder Energie wurden unbrauchbar. Aber rechnen konnte man noch, man
hatte Spektrallinien zur Verfügung, die beobachtet und mathematisch erfaßt
werden konnten: „Die Materie verschwindet, es bleiben nur die Gleichungen".
Anschaulich im traditionellen Sinne war das nicht mehr; die Materie war in der
Mikrowelt nicht mehr als Bauklötzchen mit klassisch definierbaren Eigenschaften
vorstellbar. Für die Interpretation dieser neuen Situation gab es zu dieser Zeit
zwei aus ganz verschiedenen Personenkreisen stammende Konzepte: einmal das des
schweizerischen Philosophen Richard Avenarius (1843-1896), der sog.
Empiriokritizismus, der sich als von der Philosophie herkommende Kritik der
materialistisch-empiristischen Erfahrungstheorie verstand und der an Berkeley,
Hume, Kant und Fichte anknüpfte; zum anderen die dann auch „Machismus" genannte
Position des österreichischen Physikers und Philosophen Ernst Mach, die von Kant
ausgeht und sich zu Avenarius Auffassung bekennt. Mach lehnte die Existenz
objektiv-realer Mikroobjekte wie Atome und Elektronen ab und befand sich darüber
in heftigstem Streit mit seinem Kollegen Boltzmann, der die traditionelle
philosophisch-materialistische Interpretation der Physik repräsentierte.
Beide Konzepte vereinte die grundsätzliche Ablehnung bewußtseinsunabhängiger
Erscheinungen in der Außen- bzw. Mikrowelt; alle Erfahrung ist subjektabhängig,
wobei allerdings bei Mach immer wieder ein naturwüchsiger Materialismus
durchbrach, wie Lenin festzustellen glaubte. Diese Problematik wurde nun von
zahlreichen russischen Sozialdemokraten aufgegriffen - was wiederum Lenin auf
den Plan rief: „Im Laufe dieses Jahres hat bei uns eine ganze Anzahl von
Schriftstellern, die Marxisten sein möchten, einen wahren Feldzug gegen die
Philosophie des Marxismus unternommen. In weniger als einem halben Jahr sind
vier Bücher herausgekommen, die hauptsächlich, ja fast ausschließlich, aus
Angriffen gegen den dialektischen Materialismus bestehen...Die Engelssche
Dialektik sei Mystik, erklärt Berman. Die Ansichten von Engels seien
veraltet...Unsere wackeren Streiter glauben den Materialismus widerlegt zu haben
und berufen sich stolz auf die „moderne Erkenntnistheorie", die „neueste
Philosophie" (oder den „neuesten Positivismus"), auf die „Philosophie der
modernen Naturwissenschaft" oder gar die „Philosophie der Naturwissenschaft des
20.Jahrhunderts"".(3) Wir finden hier bereits die später immer wiederholte
Bestimmung von „Revisionismus": Der Versuch, bestimmte Grundthesen des Marxismus
und damit eigentlich den Marxismus überhaupt abzulehnen bzw. zu widerlegen, und
dabei gleichzeitig das Ganze als Weiterentwicklung des Marxismus auszugeben. Es
ist also klar zwischen Revisionismus und da und dort berechtigter Revision
bestimmter marxistischer Einzelerkenntnisse zu unterscheiden.
Auseinandersetzungen von Nicht-Marxisten mit dem Marxismus gehören nicht zum
Revisionismus. Hinsichtlich der Materialismusproblematik traf das natürlich
ganz besonders Engels und weniger Marx selber. Zum Teil wurde aber auch einfach
nur Plechanow angegriffen; darüber war Lenin besonders erbost, weil es so den
betreffenden Revisionisten leichter fiel, sich immer noch als Marxisten zu
verstehen. In der Polemik mit solchen „Revisionisten" geht Lenin nun wie folgt
vor: 1. Er versucht nachzuweisen, daß diese angeblich so neue Philosophie
des Empiriokritizismus eigentlich nichts anderes ist als ein Aufwärmen des
subjektiven Idealismus des englischen Bischofs und Philosophen Berkeley, der
durch den Satz „esse est percipi", „Sein ist Wahrgenommenwerden" bekannt ist und
der den Materialismus als Grundlage des Atheismus in die Hölle wünschte. 2.
Er versucht nachzuweisen, daß eine idealistische Interpretation der modernen
Physik nicht zwingend ist und daß philosophierende Physiker wie Mach häufig
gezwungen sind, Kompromisse einzugehen. Sie sind spontane,
naturwissenschaftliche Materialisten, wenn es um die eigentliche Arbeit als
Physiker geht; sie sind philosophische Idealisten aus Unfähigkeit, einen
modernen Materialismus in der Physik zur Geltung zu bringen. 3. An letzterem
ist jedoch der Materialismus teilweise selbst Schuld, da viele seiner Verfechter
noch auf dem Standpunkt des alten, mechanischen Materialismus verblieben sind,
der nun wirklich nicht auf die Welt der Mikroobjekte angewendet werden kann. Die
angebliche Krise der Physik ist also in Wirklichkeit die Krise des bisher mit
der Physik eng verbundenen mechanischen Materialismus. 4. Um hier vorwärts
zu kommen, ist für einen konsequenten dialektischen Materialismus Sorge zu
tragen. Der Materiebegriff ist als philosophische Kategorie zu definieren; er
ist klar von der Bestimmung verschiedener Strukturformen der Materie zu
unterscheiden, zu denen neben Masse, Körper auch Strahlung, Felder, Energie zu
zählen sind. Die Bestimmung der Materie als objektiver Realität umfaßt alle
diese Strukturformen und könnte auch zukünftig noch zu entdeckende erfassen.
Insofern kann diese Bestimmung von Materie nicht veralten, sie ist jeglichem
wissenschaftlichen Fortschritt gegenüber offen. 5. Wenn wir bei den
Revisionisten nicht Borniertheit oder Schlimmeres annehmen wollen, so ist ihre
Affinität zum Machismus also nicht theoretisch, sondern politisch motiviert. Zum
Schutze der politischen und theoretischen Einheit und Kampfkraft der Partei der
russischen Sozialdemokraten muß der energischste Kampf gegen diese Leute geführt
werden. 6. Philosophische Auseinandersetzungen sind also in erster
Linie immer politische, Klassenkämpfe; Machismus und Empiriokritizismus sind
politisch reaktionäre Philosophien, für die im Marxismus oder in einer
marxistischen Philosophie kein Platz ist.
Wie schon gesagt, diese Art zu philosophieren hat mir durchaus nicht von
Anfang an mißfallen, und es gibt ganz sicher einen Zusammenhang von Philosophie
und Politik, auch wenn man ihn nicht unbedingt so eng sehen muß, wie das Lenin
getan hat. Offensichtlich hat Lenin hier überzogen, und das ist wiederum seiner
politischen Grundhaltung in einer politisch und theoretisch sehr komplizierten
Situation um die Jahrhundertwende gemäß: Politischer und theoretischer Kampf
innerhalb der sozialdemokra-tischen Parteien drohten diese zu spalten - was aber
vom Selbstverständnis der den Revisionismus bekämpfenden Marxisten nicht
zugelassen werden durfte. Die Möglichkeit, daß diese Kämpfe innerhalb der
Philosophie durchaus jeweils für sich vernünftigen unterschiedlichen politischen
Haltungen in der Partei entsprechen könnten und daß diese auszudiskutieren sind,
nicht aber gewaltsam beendet werden dürfen, kam in Lenins Konzept offensichtlich
nicht vor. Daß dann später, als die KPdSU nicht mehr in der Illegalität, sondern
schon als regierende Kraft wirkte, jenes Prinzip der Partei neuen Typs, das den
Meinungsstreit über Grundfragen innerhalb der Partei weitgehend ausschloß, immer
noch galt, hat mit zum Absturz des Programms des realen Sozialismus geführt.-
Aber auch zum Leninschen Materiebegriff gibt es einiges zu sagen: 1. Die
Überlegung, dem mechanistischen Materiebegriff eine philosophische Bestimmung
entgegenzusetzen, welche keine physikalischen Spezifikationen mehr enthielt, war
schon richtig - wenngleich keinesfalls völlig neu. Vor Spinoza und Descartes
zumindest gab es solche Versuche auch schon, etwa bei Aristoteles oder Thomas
von Aquino, welche Materialität als Potentialität, als zu Gestaltendes und als
Gestaltbares auffaßten. Ob „Raumerfüllung", wie Spinoza und Descartes die
Materie sahen, eine physikalische Definition ist, hängt davon ab, ob ich „Raum"
als eine rein physikalische Größe auffasse. „Raum" wiederum kann als
Nebeneinander durchaus auch in nicht-physikalischen Hinsichten gebraucht werden.
Ich kann mir vorstellen, daß auch soziale Objekte wie Theorien im Raum
„nebeneinander" existieren. Die Kategorie „Eigentum" bringt dann auch eine
räumliche Beziehung zwischen Klassen oder Personen zum Ausdruck usw.- Ob es
allerdings richtig war und ist, die Materie gegenüber dem Bewußtsein
definitorisch zu bestimmen, und zwar durch die Relationen „unabhängig" und
„außerhalb", ist damit noch längst nicht beantwortet. Ob ins besondere die
Relation „außerhalb" hier nicht anwendbar ist (wie R. Schröder meint
und wie ich es 1972 ebenfalls betont habe), hängt von der jeweiligen Auffassung
von „Raum" ab. Nach dem oben Gesagten wäre hier also doch noch einmal genauer
nachzudenken. 2. Die Leninsche Definition hat sich - außer bei den
marxistisch-leninistischen Philosophen - jedoch niemals so richtig durchsetzen
können. Ganz und gar nicht in der Physik, und nicht einmal - was natürlich
überraschend ist - in der marxistischen politischen Ökonomie, wo z.B. materielle
und finanzielle Fonds immer fein säuberlich voneinander getrennt wurden. Die
Wertbeziehung, für die Geld ja ein Ausdruck ist, wurde also nicht als materielle
empfunden. Auch Marx spricht im „Kapital" vom Wert als einem
sinnlich-übersinnlichen Verhältnis,(4) während für Lenin solche
gesellschaftlichen Beziehungen die materiellen Verhältnisse sind, deren
Bestimmung gerade den Kern des historischen Materialismus von Marx ausmache.(5)
Hier kann man dann fragen, ob die sicher gerechtfertigte Hervorhebung der
Produktions- bzw. Eigentumsverhältnisse wirklich an ihr Verständnis als
materielle Beziehungen geknüpft werden mußte. Für Lenin konnte eine Wissenschaft
aber offensichtlich nur dann objektiv sein, wenn sie materielle Beziehungen zu
ihrem Gegenstand hatte. Deshalb seine Polemik gegen die subjektive Soziologie
des Volkstümlers Michailowski. 3. Lenin scheint die Komplexität des
philosophischen Problems der Materie zu unterschätzen, wenn er glaubt, den
gordischen Knoten einfach zerschlagen zu können. Die Materie sei uns in den
Empfindungen gegeben, und das akzeptiere doch jeder vernünftige Mensch, solange
er durch idealistische Philosophen nicht auf Abwege geführt werde. Lenin spricht
deshalb vom naturwissenschaftlichen Materialismus als der elementaren, nicht
erkannten, ungeformten, philosophisch-unbewußten Überzeugung der erdrückenden
Mehrzahl der Naturforscher, daß der sich in unserem Bewußtsein widerspiegelnden
Außenwelt objektive Realität zukommt.(6) Hier setzt die leidige Verwechslung von
Materialismus und Realismus ein, die es den für eine solche Bestimmung
empfänglichen Materialisten möglich machte, praktisch alle Naturwissenschaftler
als Materialisten für sich in Anspruch zu nehmen - unter Inkaufnahme der
Paradoxa, daß es so etwas wie philosophisch-unbewußter Materialismus geben soll
oder aber Materialisten, die an Gott glauben. 4. Materie als philosophische
Kategorie ist wohl doch nicht durch die Sinne erfahrbar und durch Verweis auf
die Naturwissenschaften nachweisbar. Essen kann man nur Äpfel und Birnen,
strenggenommen aber niemals Obst, worauf Engels im Anschluß
an Hegel schon hingewiesen hatte. „Materie" als Begriff zu gewinnen und zu
bestimmen, ist wohl nicht ohne diesen Bezug, aber auch nicht einfach nur durch
einen Bezug auf die Sinne des Menschen möglich. Ein solcher Begriff muß, soll es
ihn denn wirklich geben müssen, gedanklich erschlossen, rekonstruiert werden.
5. Bedauerlicherweise belastete Lenin seinen Materiebegriff zusätzlich mit
einer sehr strengen Konzeption von Abbildung. Seine Polemik gegen die
Hieroglyphen-Theorie von Helmholtz und die Aufnahme der Termini
„photographieren" und „kopieren" in die Bestimmung des Materiebegriffs
erschweren es enorm, einen moderaten Abbildbegriff gegenüber den Gegnern eines
Abbildkonzeptes aufrecht zu erhalten. In die gleiche Richtung geht die scharfe
Trennung von Wahrheitsbegriff und Feststellung der Wahrheit. Unter dieser
Bedingung erscheint die materialistische Wahrheitstheorie als ein metaphysisches
Postulat und nicht mehr als eine beweisbare Konzeption. 6. Die Schärfe
der Polemik bei Lenin, welche natürlich im Zusammenhang mit der politischen
Situation dieser Zeit zu sehen ist, macht einen Dialog innerhalb des
Materialismus wie zwischen Materialismus und Idealismus unmöglich. Die Leninsche
Position erscheint als unangreifbar, da mit den Interessen des Proletariats und
der Methodologie der Wissenschaften in Übereinstimmung. Letztlich ist damit
Hegel in seinem Alleinvertretungs- und Absolutheitsanspruch also nicht nur nicht
dialektisch aufgehoben, sondern wiederhergestellt.
Literatur:
1) Später fand ich mich durch Umberto Eco bestätigt, der einen Zusammenhang
zwischen Machtdurst und impotentia coeundi behauptet und. respektlos formuliert:
"Marx war mir sympathisch, weil ich sicher war, daß er's mit seiner Jenny
fröhlich getrieben hat. Man spürt es am ruhigen Atem seiner Prosa und an seinem
Humor. Aber einmal, in den Fluren der Universität, sagte ich, wenn man immer mit
der Krupskaja ins Bett geht, schreibt man am Ende ein so scheußliches Buch wie
Materialismus und Empiriokritizismus." In: Das Foucaultsche Pendel,
Hanser 1989, S. 63. Ich habe mir daraufhin ein Photo der Krupskaja angesehen.
Aber meine Frau meinte, so könne und müsse sie doch nicht immer ausgesehen
haben... 2) W.I.Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. Lenin-Werke
Bd.14. Dietz Verlag Berlin, S.124 3) ebenda Vorwort zur ersten Auflage
4) Karl Marx: Das Kapital, Band 1, in: Marx/Engels-Werke, Band 23, Dietz
Verlag Berlin 1975, S.86. Es heißt hier: "Das Geheimnisvolle der Warenform
besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen
Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der
Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge
zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur
Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von
Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren,
sinnlich-übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge." 5) W.I.Lenin: Was sind
die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten? in: Lenin Werke
Band 1, Dietz Verlag Berlin 1968, S.128-133 6) W.I.Lenin: Materialismus und
Empiriokritizismus, a.a.O., S.351
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