Verändern der Umstände und Selbstveränderung!

So unsicher die Prognose der konkreten Gestalt einer herrschaftsfreien Gesellschaft sein mag – grundsätzliche Merkmale dieses Ziels können angegeben werden:

  • Herrschaftsfreiheit,
  • Emanzipation auf Grundlage sozialer Sicherheit,
  • ökologisch verträgliche Wirtschaftsweise
  • usw.

Dieses Ziel steht den vorhandenen Herrschafts- und Machtstrukturen sowie der Wirkungsweise der gesellschaftlichen Reproduktion entgegen. Dieser Gegensatz muß als gesellschaftlicher Prozeß ausgefochten werden - es wird keinen harmonischen Übergang geben.

Gleichermaßen ist es nicht möglich, die vorhandenen Herrschaftsstrukturen FÜR deren Abschaffung instrumentalisieren zu wollen, wie Jörg Bergstedt berechtigt in seinem Buch "Agenda, Expo, Sponsoring" betont.

Die bisherigen Revolutionen in der Geschichte ersetzten bestimmte Herrschaftsformen durch neue. Diesmal geht es um die Abschaffung jeglicher Herrschaft über Menschen und die Natur – ein völlig neues gesellschaftliches Ziel. Dieses Ziel beinhaltet, daß die Menschen sich selbstbestimmt versorgen und ihr soziales und kulturelles Leben selbst organisieren: Bisher wurden die gesellschaftlichen Beziehungen über persönliche oder strukturelle Gewaltverhältnisse vermittelt – die Menschen in der herrschaftsfreien Gesellschaft haben die Möglichkeit, sich von beiden Gewaltverhältnissen zu emanzipieren.

Dies erfordert aber, daß auch auf dem Weg, auf dem dieses Ziel erreicht werden soll, dieser Aufgabe entsprechend auf Gewalt- und Machtverhältnisse verzichtet werden muß. Es muß zu dem von Marx in der 3. Feuerbachthese angemahnten "Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der... Selbstveränderung" kommen.

Dies bringt einen Widerspruch in unsere Strategie:

  • Einerseits müssen wir auf dem Weg zum Ziel von den jeweils (begrenzt) entwickelten Fähigkeiten und Bedürfnissen der Menschen zur Selbstbestimmung ausgehen und können uns nicht als "Avantgarde" über sie stellen und sie "führen" wollen.
    Dabei dürfen wir nicht übersehen, daß diese Fähigkeiten und Bedürfnisse wiederum von den herrschenden Strukturen stark reduziert und behindert werden – die sog. "falschen Bedürfnisse" und das "verkehrte Bewußtsein" sind nicht nur subjektive Fehlleistungen sondern entsprechen den die Mächte verdinglichenden objektiv realen gesellschaftlichen Strukturen.
  • Andererseits muß die Bewegung eine Kraft bekommen, welche die alten Mächte aushebeln und zerstören kann. Eine lasche Hoffnung auf die Kraft des weichen Wassers, das den Stein höhlt, wäre illusionär. Bisher hat – wie oben erwähnt – lediglich eine neue Gewaltform die frühere ersetzt. Die Aufgabe des Verzichts auf neue Gewalten bei der Beseitigung der alten ist historisch lediglich in Ansätzen erfolgt (Gandhi).

Diese Problemstellung, ohne neue, eigene Gewaltstrukturen die herrschende Gewalt zu beseitigen, zwingt zu tiefergehenden Überlegungen und mehrspurigen Strategien.

Alle Unternehmungen auf dem Weg zur herrschaftsfreien Gesellschaft müssen neben dem direkten Effekt der Aufhebung von Herrschaftsstrukturen gleichberechtigt das Ziel verfolgen, das real begründete subjektive Verhaftetsein der Menschen in die verdinglichten Machtstrukturen auszuhebeln.

Hier sehe ich den Sinn von Aktivitäten, die nicht unbedingt sofort den radikalsten Ausstiegsweg gehen:

  • Bei den Projekten im Sinne von "New Work" besteht die Gefahr der Integration in Herrschaftsstrategien, die neue, sich selbst ausbeutende Kleinunternehmer erzeugen und die Aufmerksamkeit von den Ausbeutungsverhältnissen innerhalb der Lohnarbeit ablenken Gleichzeitig jedoch besteht hier die Möglichkeit und Notwendigkeit, daß die beteiligten Menschen erstmals darüber nachdenken, was sie "wirklich, wirklich wollen". Die Ergebnisse dieses Nachdenkens reichen tendenziell über die Grenzen der Profitwirtschaft hinaus, weil sie konkrete Lebensbedürfnisse gegen abstrakte Profitmacherei wachsen lassen.
  • Existenzgeldforderungen sind innerhalb des kapitalistischen Lohnarbeits-Erpressungssystems unrealistisch, solange sie nicht von den Herrschenden umgemünzt werden in eine Art Bürgergeld, die mit erneuten Herrschaftsstrukturen verbunden sind. Ihre Thematisierung bringt jedoch Erkenntnisse über den gesellschaftlichen Reichtum und die Frage nach der Notwendigkeit der Arbeitstätigkeit mit sich – diese sind eine wesentliche Grundlage für die Neugestaltung der Gesellschaft, die über den Horizont der arbeitszentrierten ökonomistischen Gesellschaft hinausweist.
  • Tauschringe können aufgrund fehlender wichtiger Produktionsmittel die kapitalistische Wirtschaft nicht aushebeln und bergen die Gefahr in sich, den reine sozialdarwinistische Leistungsorientierung (entgegen der Solidarität) zu befördern. Trotzdem finden sich hier im allgemeinen Menschen zusammen, die zumindest teilweise aus den herrschenden Verwertungsbedingungen aussteigen wollen – und über ihre eigenen Erfahrungen im Tauschring weiterführende Forderungen und Aktivitäten unternehmen können.
  • Sogar die ausbeutungsverschärfenden Veränderungen im Job-Arbeitsbereich führen zu neuen Fähigkeiten und Bedürfnissen von Menschen (Teamarbeit, Koordinationsfähigkeit, Kreativität) und weiteren materiell-technisch-organisatorischen Voraussetzungen (dezentral-vernetzte Produktionsstruktur) für eine zukünftige herrschaftsfreie, aber bedürfnisbefriedigende Produktion (auch Marx beschrieb die damals neuen Entwicklungen bei der Einführung von Werkzeugmaschinenproduktion janusköpfig: ausbeutend-ausblutend, aber auch fähigkeiten-entwickelnd...).

Deshalb haben auch reformerisch scheinende Projekte die Potenz in sich, ihre ursprünglichen reformistischen Horizonte zu sprengen. Dies wird aber nur geschehen, wenn ihre Akteure dies bewußt anstreben und sich gegen den finanziell lockenden Integrationssog wehren.

Hier mag eine Forderung von Frantz Fanon helfen, wenn man die "Brücke" mit "Projekt" übersetzt:

 

Wenn der Bau einer Brücke das Bewußtsein derer,
die daran arbeiten, nicht erweitert,
dann soll die Brücke nicht gebaut werden.

 


- Statement zum Manuskript:
"Agenda, Expo, Sponsoring" Band 2 von Jörg Bergstedt -

 

 

Zu Perspektiven siehe auch:

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